Jena 21 December 76
Lieber Freund!
Da heute der kürzeste Tag ist, und morgen also die Aussicht a anfängt, aus unserer kymmerischen Nacht wieder heraus zu kommen, muß ich Dir doch sagen, wie ich mich freue, daß die Hälfte dieses übermäßig einsamen Winters vorbei ist. Du fehlst mir sehr, und ich hoffe auf den gemeinsam zu genießenden Sommer. Du wirst natürlich in Deinem ewigen Frühling Liguriens das öde Saalthal nicht vermissen; zumal wir seit 4 Wochen die Sonne nicht gesehen haben!! Ewig bedeckten, gleichmäßig grauen Himmel; freilich auch im ganzen December keinen Frost (stets +3-6°) so daß jetzt die Veilchen blühen. ||
Deine mögliche Wegberufung ist Gegenstand meiner beständigen Sorge und ich hoffe im Stillen, daß der König v. Sachsen einen so gefährlichen und so wenig kirchlichen Botaniker nicht in die fromme Stadt Dresden wird einreisen lassen. –
Inzwischen droht Dir eine neue Berufungs-Gefahr, nämlich Heidelberg, wo gewiß Fischer Deine Berufung in erster Linie begünstigen wird. Von Heidelberg könnte ich Dir so wenig abrathen, als ich Gegenbaur abgerathen habe Schließlich findet sich dort vielleicht die ganze Jenenser-Gesellschaft wieder zusammen, was gar nicht so übel wäre. ||
In Tübingen hat Hofmeister gesiegt und hat es durchgesetzt, daß sein Schüler Pfitzer (den er auch in Heidelberg placirt hatte) sein Nachfolger wird. Hofmeister geht wegen Delirium tremens ab (nach anderer Version wiederholte Schlaganfälle.
Jedenfalls ist in der Botanik das „Kämmerchen. Vermiethen“ in Schwung und ich, wie Seebeck, fürchten sehr für Deine Stabilität! Ich selbst komme mir immer mehr wie ein uralter Greis hier vor!
– Von hiesigen Ereignissen sehe und höre ich Nichts. Seit 4 Wochen bin ich jeden Abend zu Hause, nur unseren medicinisch naturwissenschaftlichen Freitag Abend ausgenommen! ||
Unser Gesellschafts-Vermögen hat sich am Jahres-Schluß glänzend gehoben! Wir besitzen jetzt in der Sparkasse über Tausend Mark!! Wahrscheinlich werden wir sie verwenden, um einen Band „Denkschriften“ in 4° herauszugeben. Du kannst da gleich Deine Siphoneen publiciren!
– Präsident für 1877 ist
– E. E. Schmid!!
Eichhorst hat sich mit Frl. Ried verlobt. Detmer wird [xxx] heirathen. Preyer ist zur Hochzeitb gestern abgereist und wird 20 Flitterwochen (bis Mai!) in Italien zubringen. Er ist grenzenlos in seine Braut verliebt, die wirklich sehr schön sein muß!
Vergnügte Weihnachten u. glückliches Neujahr!
Mit herzlichstem Gruß
Dein E. Haeckel
Mein Lazareth ist aufgelöst. Die ganze Familie ist (ausnahmsweise) wohl!c
a gestr.: ist; b gestr.: zur Hochzeit; c Text weiter am linken Rand von Seite 4, quer zur Schreibrichtung: Mein Lazareth … wohl!