Ernst Haeckel an Wilhelm Olbers Focke, Jena, 28. Dezember 1868

Jena 28 Dec. 68.

Mein lieber Freund!

Deine beiden Aufsätze „über die synthetische Methode in der Systematik“ und über „Rubus Leerii“, welche ich mit großem Interesse gelesen habe, sind von der Redaction unserer Jenaischen Zeitschrift mit Dank angenommen, und werden im nächsten Hefte (No. 1 von 1869, V Bd) erscheinen. Du wirst Correctur und 25 Abdrücke erhalten. Deine Mittheilung über die Rubus-Arten und ihren geringen Variabilitäts-Grad hat mich sehr überrascht; laß Dich nur durch die Schwierigkeiten der Untersuchung nicht abschrecken, der Sache auf den Grund zu gehen; Du wirst gewiß noch zu schönen Resultaten über dieses rätselhafte Genus kommen, wenn sich auch Deine jetzigen Ansichten über die Ausdehnung der Hybriden-Bildung noch in manchen Stücken modificiren sollte. ||

Dein Bruder war vorgestern bei mir, um mir die berühmte Korbflasche einzuhändigen, schien jedoch so großen Abscheu oder Respect vor mir zu haben, daß er sich nicht bewegen ließ, auch nur einen Augenblick in meine Stube zu treten. Er sah übrigens sehr wohl aus.

Daß Du mit Deiner Gesundheit und sonstigem Befinden wieder zufrieden bist, freut mich sehr, und ich wünsche guten Fortschritt in jeder Beziehung.

Mir geht es jetzt auch recht gut. Mein kleiner Bube, Nomine Walter, ist ein allerliebstes Kerlchen, jetzt schon ¼ Jahr alt, und macht uns viele Freude. Er scheint sehr heiter und munteren Temperaments zu sein. Auch meine Frau hat sich wieder ganz erholt, und erfüllt ihre Mutterpflichten vortrefflich. So ein kleines Wesen dreht doch die ganze Wirthschaft um. Besonderen Spaß macht mir seine immer noch fortdauernde Quadramanie. Er greift mit der großen Zehe noch eben so geschickt und kräftig, wie mit den Daumen! ||

Im Oktober habe ich unter dem Titel „Natürliche Schöpfungsgeschichte“ einen Cyclus von 20 Vorlesungen veröffentlicht, welche ich im vorigen Winter hier publice gehalten und von zwei Studenten habe stenographiren lassen. Ich hatte die Absicht, drei Exemplare davon nach Bremen zu senden, an Dich, an Steube und an Ed. Gildemeister. Als es jedoch zur Vertheilung der Freiexemplare kam, bemerkte ich zu meinem Schrecken, daß dieselben nicht einmal für diejenigen Correspondenten und hiesigen Collegen ausreichten, denen ich bereits vorher eins versprochen. So muß ich mir denn die Sendung der drei Bremenser Exemplare für die zweite Auflage aufsparen, die in vermehrter und verbesserter Form schon im nächsten Jahre (1869) erscheinen wird. Das Buch ist so gut gegangen daß schon jetzt, nach kaum ¼ Jahr, die erste Auflage (1000 Exemplare) fast ganz vergriffen ist. Die zweite sollt ihr aber sicher bekommen. Einliegend vorläufig ein paar Tafeln daraus. ||

Auf Deinen Aufsatz über Treviranus bin ich sehr begierig. Es freut mich sehr, wenn die Zahl der vor-darwinischen Descendenz-Theoretiker sich immer mehrt.

Meine Vorlesungen sind diesen Winter wieder sehr gut besucht. In der Zoologie habe ich 44 Zuhörer (Peters in Berlin hat 14, bei 2000 Studenten!) Im Privatissime arbeiten 9 bei mir. Einen großen Verlust haben wir am 6. December durch den Tod von August Schleicher erlitten, der nach nur 6tägiger Krankheit an Pneumonie starb (47 Jahre alt). Er war nicht allein der erste Linguist, sondern zugleich ein ausgezeichneter Botaniker und Gartenkünstler, der sich besonders für Rassenzüchtung u. dergl. sehr interessirte. Er war einer meiner besten Freunde.

Dein Urtheil über Darwins seltsame Pangenesis theile ich vollständig.

Mit herzlichstem Gruße in alter Freundschaft

Dein Haeckel.

Brief Metadaten

ID
41218
Gattung
Brief ohne Umschlag
Entstehungsort
Entstehungsland aktuell
Deutschland
Entstehungsland zeitgenössisch
Deutsches Reich
Datierung
28.12.1868
Sprache
Deutsch
Umfang Seiten
4
Umfang Blätter
2
Format
13,5 x 20,8 cm
Besitzende Institution
SUUB Bremen, Abt. Handschriften und Rara
Signatur
Aut. X, 56 (4)
Zitiervorlage
Haeckel, Ernst an Focke, Wilhelm Olbers; Jena; 28.12.1868; https://haeckel-briefwechsel-projekt.uni-jena.de/de/document/b_41218