Alexander Davidoff an Ernst Haeckel, Moskau, 8. Dezember 1896

Moskau (dep. Xxx)

d. 8/20 Dec. 1896.

Sehr verehrter Herr Professor

Vor etwa drei Jahren hatte ich das Glück Ihre Natürliche Schöpfungs-Geschichte zu lesen.

Es hat mir sehr viel Vergnügen bereitet die Ideen wissenschaftlich begründet zu sehen, die sich in denkenden Kreisen immer mehr, wenn auch langsam, Bahn brechen und zu denen ich mich immer unwillkürlich hingezogen fühlte.

Schon damals trieb es mich Ihnen zu schreiben, weil ich glaubte, der glückliche Finder eines Juwels von unschätzbaren Werthe sein zu können, das dem Monismus eine Stütze mehr, und zwar keine kleine, verleihen würde. Ich fand aber damals nicht den nöthigen Muth, weil ich im Grunde genommen, mich auf keine weiteren Kenntnisse stützen kann, als sie ein russisches Gymnasium einen denkenden Menschen zuzuführen vermag.

Vor einigen Tagen gab mir ein junger Arzt Ihre Festrede vom 9. Oct. 1892 in Altenburg: „Der Monismus, als Band zwischen Religion und Wissenschaft“, zu lesen, und das gibt mir die Dreistigkeit im Namen des allgemeinen Fortschrittes Sie dennoch zu belästigen. Denn einerseits haben meine Ueberzeugungen während der ganzen Zeit auch nicht die geringste Erschütterung zu erleiden vermocht, und andererseits hege ich die Hoffnung, daß es Ihnen bei Ihrem reichen Material an Kenntnissen ein Leichtes sein wird zu entscheiden, ob der Edelstein wirklich von || reinem Wasser ist, oder aber nur ein gemeiner Glassplitter.

Ich werde mich kurz fassen.

1. Wir nehmen an, das Weltall habe sich aus einem Urstoffe gebildet, der aus „beseelten Urtheilchen“ zusammengesetzt sei.1, 2)

Der Gedanke liegt nahe, daß diese Urtheilchen auch weiter und bis in die Unendlichkeit theilbar sein könnten, und daß, soweit wir auch in unserer Theilung fortschreiten möchten, sie ihre „Seele“ immer beibehalten müssen. Wir können nie die Grenzen erreichen, wo der Geist sich mit dem Stoff verbunden hätte. Wir können dagegen auf einer beliebigen Stufe der Theilung stehen bleiben und von da aus den Bau der Welt verfolgen.

Dieser Satz hat seine Wichtigkeit, insofern weder der menschliche Verstand, noch sein Gemüth so beschaffen sind, als daß sie da noch Etwas suchen wollten, || wo ihnen der klare Beweis geliefert worden, daß Nichts zu finden sei.

Ein historisches Bild dessen geben uns die Fragen über die Trisektion des Winkels und die Quadratur des Zirkels.

Ich habe eigentlich weiter Nichts zu sagen.

Die Folgerungen, die sich für jede Lebenserscheinung aus diesem Satze ziehen lassen, sind ohne Grenzen.

Gedanken über den Weltäther.

Seite 15 Ihrer Festrede berühren Sie den Punkt, dessen Behandlung mir nicht recht behagen wollte und schließlich auch bei Ihnen mit einem Fragezeichen versehen ist. Ich meine die Frage über dem Weltäther.

Wollen wir konsequent und unserem Satze treu bleiben, so müssen wir zugestehen, daß die bei Weitem größere theoretische Wahrscheinlichkeit dafür spricht, daß der Weltäther ebenfalls aus diskreten Theilchen bestehe.

Zwei sich attrahirende Punkte müssen in eine wirbelnde Bewegung gerathen. Bei dem Einfluß, den das ganze übrige Weltall und besonders die nächste Umgebung auf zwei sich attrahirende Urtheilchen hat, es mag auf jeglicher Stufe ihrer Entwickelung sein, muß der Abstand zwischen ihnen, im Vergleich zu ihrer eigenen Größe, immer ein bedeutender, resp. || sogar enormer sein. 3) Der weitere Einfluß des Weltalls wird diesen Abstand entweder zu vergrößern, oder zu verkleinern streben, in der Trägheit der drehenden Bewegung aber sowol als in der gegenseitigen Attraktion der Urtheilchen, einen Widerstand finden, der dem einer gepreßten, oder einer gedehnten Feder ähnlich, den Eindruck einer Kontinuirlichkeit hervorbringen muß, und von repulsiven Erscheinungen begleitet sein kann, die im Grunde genommen nur eine eigenartige Gestaltung von Attraktions-Kräften zu sein brauchen.

Bei den Massen-Urtheilchen findet eigentlich dasselbe statt. Nur ist hier die Attraktion größer, der Zustand beständiger, der Abstand schwerer veränderlich und deshalb die Erscheinung weniger elastisch und repulsiv. Die Empirie zeigt uns durchaus nicht, daß die Eigenschaften das Weltäthers unsern Elementen absolut fehlen, oder umgekehrt. Der Unterschied ist auch hier nur ein „gradueller“. (Ich halte mich an Ihren Ausdruck.)

Wir dürften sogar annehmen, daß zwischen dem dichteren Weltäther (aber nicht dem Weltäther unseres Sonnensystems oder dem anderer Sternsysteme) und den undichtesten Formen unserer leichtesten Elemente, oder des Urelementes, keine schärfere Grenze zu ziehen sei, als etwa zwischen der Gasform und tropfbar flüssigen Form, wo doch auch eine Reihe von Dämpfen verschiedener Kondensation den Uebergang vermittelt. ||

Eine solche Auffassung läge der monistischen Weltanschauung näher, als die etwas dualistisch angehauchte S. 15. Sie brauchte auch nicht den Erfahrungen von H. Hertz zuwider sein, könnte sie vielmehr noch bekräftigen. Sie läßt durchaus eine gleichmäßige Vertheilung des Weltäthers zwischen den Massen-Urtheilchen unserer Elemente zu, sogar innerhalb der Moleküle, und unterstützt durchaus seine hervorragende Betheiligung an den Erscheinungen von Licht, Wärme, Elektricität und Magnetismus.

S. 16 ist gesagt: „Denn damit sind die irrthümlichen Vorstellungen vom leeren Raum und von der Formwirkung der Körper ausgeschieden.“

Ja, ist denn die Attraktion, als erste Äußerung der Seelenthätigkeit von Urtheilchen der Elemente, leichter zu begreifen oder zu begründen in einem Raum, der von kontinuirlichem Aether erfüllt, als in einem leeren Raume? Sie kann nach Satz 1 so wie so nicht der Erklärung unterliegen, ist sie aber einmal vorhanden, so ist uns der kontinuirliche Aether nur hinderlich bei einer einheitlichen Auffassung der Erscheinungen, der diskontinuirliche dagegen fördert eine jede Erklärung.

Das Thema (Anm. 11, S. 42) würde sich bei unserer Voraussetzung etwa folgendermaßen gestalten:

Das auf S. 17, Rh. 6-15 Gesagte würde sich alsdann auch etwas anders gestalten.

Und auf die Fragen S. 18: „Wie verhält sich diese Urmasse zum Weltäther? Stehen beide Ursubstanzen in einem wesentlichen und ewigen Gegensatze? Oder hat der bewegliche Aether vielleicht selbst erst die schwere Masse erzeugt? – würden die Antworten folgen.

Die undichtesten Formen des Weltäthers, wie sie etwa in den sternenleersten Räumen des Himmels vorkommen mögen, haben den Grund zu unsern Elementen (oder zum Urelemente) gelegt. Der dichtere Aether unseres Sonnensystems (oder auch anderer Sternsysteme) könnte wol ein Astzweig der Entwickelung sein und zu den Elementen in keinem wesentlichen Gegensatze stehen, als das Pflanzenreich zum Tierreiche.

Alexander Davidoff.

1.) Diese Urtheilchen brauchen noch vor Bildung des uns schon etwas bekannten Welt-Aethers unseres Sonnensystems nicht überall ein und dieselbe Form zu haben, wol aber – kann man die Möglichkeit (noch aber keine Wahrscheinlichkeit) gelten lassen, daß sie vor der Bildung aller unserer Elemente, das Helium nicht ausgenommen, eine Grundphase der Gruppirung durchgemacht haben, die der Bildung der sogenannten Massenurtheilchen (Massenatome) zu Grunde liegt.

2.) Ich vermeide vorsätzlich die Bezeichnung „Atom“, weil sie philosophisch den Begriffen meiner Auseinandersetzung widerspricht, und sich von der Vorstellung der Untheilbarkeit nicht freimachen läßt, während das Wort „Theilchen“ nicht nur den Begriff von etwas Abgesonderten umfaßt, sondern auch den von weiterer Theilbarkeit umfassen könnte.a

3) Ob nicht Hoffmann in seiner „Somatologie“ einen gründlichen Beweis dessen für die Elemente geführt hat?a

a Die Fußnoten 1.-2. und 3. stehen am Fuß von S. 2 resp. 4.

Brief Metadaten

ID
4102
Gattung
Brief ohne Umschlag
Entstehungsort
Entstehungsland aktuell
Russland
Entstehungsland zeitgenössisch
Russland
Datierung
08.12.1897
Sprache
Deutsch
Umfang Seiten
7
Umfang Blätter
4
Format
20,2 x 25,2 cm
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 4102
Zitiervorlage
Davidoff, Alexander an Haeckel, Ernst; Moskau; 08.12.1897; https://haeckel-briefwechsel-projekt.uni-jena.de/de/document/b_4102