Alexander Davidoff an Ernst Haeckel, Moskau, 1. November 1897

d. 1ten November 1897.

Noch immer im Zweifel, ob ich mein Geschreibsel absenden sollte, hatte ich unterdessen die Gelegenheit ein Werkchen von Sabatier zu lesen über: „Die Unsterblichkeit vom Standpuncte des evolutionellen Naturalismus,“ – in russischer Uebersetzung.

Fast von der ersten Seite an erleuchtete mich, möchte ich sagen, ein Gedanke, der sich beim weiteren Lesen immer mehr bekräftigte, obgleich er im ganzen Buche nicht ausgesprochen, sondern nur angedeutet wird.

Es ist die Voraussetzung, daß unser Gehirn und ins Besondere das Gangliengewebe ein weit feineres Aethergewebe in sich schließt. Der Aether wird von allen Organismen, am stärksten aber vom Nervensystem gleichsam „accumulirt und organisirt“. (Ich halte mich am Ausdruck von Sabatier).

Aus einer russischen Zeitung ersehe ich, daß Prof. Damlewsky auch eine Theorie aufstellt, wo er zur Erklärung aller Ernährungserscheinungen sämtlicher Organismen organisirten Aether zu Hülfe ruft. Die Organisation der Aether-Seele könnte demnach eine so zähe sein, daß sie sich, nach Zerfall des Gehirnes frei geworden, nicht aufzulösen brauchte, ja immer weiter vervollkommnen (accumuliren und organisiren) könnte. Wir ständen hiermit für den unsterblichen Menschen wol vor einem „Gasartigen Wirbelthier.“

Ich kann mir wol sagen, daß die Wissenschaft von heute nichts zur Bekräftigung solcher Theorie (die durchaus nicht grau) vorbringen kann, sie kann aber wol auch nichts dagegen aufweisen. Nehmen wir aber die Voraussetzung zur leitenden Idee bei wissen-||schaftlichen Forschungen, so müssen wir früher oder später zur bejahenden oder verneinenden Klärung der Frage kommen.

Die Erscheinung von Verstorbenen und Geistern, auf die möglicher Weise nicht aus bloßen Märchen hingewiesen wird, trotz Schillers großen Worten:

Sechs Tausend Jahre hat der Tod geschwiegen.

Kam je ein Leichnam aus der Gruft gestiegen…

(Man denke nur weiter an die Geschichte der Steinregen, die auch einst für Märchen galten) – die Erscheinungen müßten genauer untersucht und gesammelt, dokumentarisch festgestellt und womöglich photographisch fixirt werden, denn eine solche Erscheinung muß von Lichtvibrationen des Aethers begleitet sein. Wir müßten uns anstrengen auf feinere Messungen von Aethermassen und Elektrizität zu sinnen und Anderes mehr.

Für einen allgemeinen Weltgeist, oder Gott, gäbe das ganze System eine andere Vorstellung, als eine individuelle. Für die gesammte Weltattraction muß es auch bei unendlichkeit von Raum und Materie ein Zentrum geben. In diesem Zentrum könnte sich eine solche Kraft von Gedanken und Gefühl koncentriren, von deren Größe wir uns aber keine blasse Vorstellung zu machen vermögen.

Und es braucht nicht einmal auf menschliche Sinnesart zu geschehen. Treffen doch (deviniren) Gedankenleser auf’s Genaueste ohne eine klare bildliche Vorstellung zu haben.

Nach einem bekannten Ausspruch ist nun aber die Weltkugel eine solche, deren Oberfläche nirgends, deren Zentrum aber überall zu finden sei. Darauf hin könnte auch oben genannte Kraft überall koncentrit sein.

Eine solche Vorstellung käme der Idee von einem all-||mächtigen, allwissenden und allseienden Gott sehr nahe.

Noch zwei kleine Bemerkungen.

1. Ein jedes Aethertheilchen, noch so klein, muß außer der nächsten Umgebung die Attractionskraft des ganzen Weltalls auf sich fühlen, es muß durch alle Verirrungen seiner unzähligen Vibrationen sich nach dem Zentrum sämtlicher Attractionskraft hingezogen fühlen. Ich sehe in diesem Zuge den ersten Urkeim des Dranges nach Wahrheit. Auf einer weit entwickelten Stufe, wenngleich noch unendlich primitiv, offenbart sich derselbe Zug in der Brust des Menschen, als dunkle Ahnung des Wahren und des Endzweckes des stattlichen Weltbaues.

2. Das mechanische Welträthsel kann auch bei Unendlichkeit des Raumes und des Stoffes nur eine Lösung haben. Es ist also auch das geringste Zittern des kleinsten Aethertheilchens streng geregelt und bestimmt, und wir dürfen diese Bestimmung, im dunkeln Streben zum Endzwecke bestehend, nicht blind nennen.

Das, was wir Zufall heißen, ist eben das Zusammenfallen (das Zusammentreffen, der Knotenpunkt) verschiedener Bewegungen, deren Kreuzung aber durch ihre vorhergehende Richtung unvermeidlich war. Die menschliche Erkenntniß und der menschliche Wille, sobald sie nur anfangen als solche zu wirken, treten bloß als Summande auf, deren Größe, selbst erst geschaffen und summirt, oftmals alle übrigen Summande überragt und auf die weitere Richtung der Erscheinungen am sichtbarsten Einwirkung thut. Die Teleologie hätte damit auch ihre || Begründung.

Ihre Antwort über alle diese Ansichten könnte einem Geiste, der nach Wahrheit ringt von großem Werthe sein.

A. Davidoff.

P.S. Eine Antwort würde ich bitten nach einliegender Adresse aber nicht rekommandirt einzusenden.

Brief Metadaten

ID
4101
Gattung
Brief ohne Umschlag
Entstehungsort
Entstehungsland aktuell
Russland
Entstehungsland zeitgenössisch
Russisches Kaiserreich
Datierung
01.11.1897
Sprache
Deutsch
Umfang Seiten
4
Umfang Blätter
2
Format
22,2 x 25,3 cm
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 4101
Zitiervorlage
Davidoff, Alexander an Haeckel, Ernst; Moskau; 01.11.1897; https://haeckel-briefwechsel-projekt.uni-jena.de/de/document/b_4101