Haeckel, Ernst

Ernst Haeckel an Marie Eugenie delle Grazie, Jena, 31. Januar 1897

Jena 31. Januar 1897.

Hochverehrte liebe Freundin!

Morgen gedenke ich (wenn die colossalen Schneefälle es gestatten!) meine 3 monatliche Fahrt nach den Hesperiden-Gärten anzutreten! Schon der hoffnungsreiche Gedanke daran – und an meine Fischerei in der herrlichen Meerenge von Messina! – hat mich seit Beginn des Jahres neu gestärkt u. ermuthigt. Der alte Antaeus-Mythos, den Sie mir in Ihrem lieben letzten Briefe (mit Recht!) vorhalten, ist seit 50 Jahren eine meiner drei ethischen Lieblings-Vorstellungen; schon als Knabe von 12-14 Jahren imponirte mir ganz besonders:

I. der gefesselte Prometheus,

II. Hercules am Scheidewege, und

III. Antaeus, bei der Berührung mit Mutter Erde neue Kraft gewinnend! ||

Auf Reisen, und mit einer mir voll zusagenden Arbeit vor Augen, bin ich ein anderer Mensch, als daheim in der Klosterzelle! Da gilt es, jede kostbare Stunde voll auszunutzen! Zum „Tagebuch“ (das mir meist ein „frommer Vorsatz“ bleibt!) und zum Briefschreiben komme ich nur selten! Wundern Sie sich nicht, theure Freundin!, wenn Sie Monate lang Nichts von mir hören. Damit Sie aber Ihren alten „Schulmeister“ nicht ganz vergessen, lege ich dieser Sendung mein Jubiläums-Bild (vom 60. Geburtstage) bei, das Sie, soviel ich weiß, noch nicht besitzen; und zum Vergleich den 20 Jahre jüngeren Ernst Haeckel von 1877, den Kämpfer mit dem Motto „Impavidi progrediamur! (für meine Studenten lithographirt). ||

Außerdem sende ich Ihnen noch vier Aquarell-Skizzen von meiner letzten Reise, deren Glanz- und Höhe-Punkt ja die Begegnung mit Ihnen in Salzburg am 3. und 4. September war. Ihr geliebter Mönchsberg (am 3. Sept.) wird Ihnen hoffentlich in meiner unvollkommenen Skizze nicht allzu prosaisch erscheinen; ich habe sie nach einer rohena Skizze ausgeführt, die ich schon 1888 vom Kapuziner Berg aufgenommen hatte. – Das Bild von Park Aigen ist (am 5. Sept.!!) von dem Punkte aufgenommen, an welchem wir zusammen unten auf der Bank plauderten und die herrlichen Buchen bewunderten, die den alten Watzmann vollkommen einrahmten – jenen stolzen Berg, an dem ich auf meiner ersten Alpenreise (als Würzburger Student, 1855) zum ersten Male die Höhe von 9000 Fuß erklomm. – ||

Diese Skizze hat ihre eigene Geschichte – und wenn der Held derselben 20 oder 30 Jahre jünger wäre, könnten Sie daraus eine unschuldige Novelle machen. Sie erinnern sich vielleicht, liebe Freundin, daß Samstag, der 5. September, alsb ein herrlicher wolkenloser Sonnentag begann. Um 9 Uhr sollte ich zur Bahn nach München fahren. Aber schon um 8 Uhr schien mir die Sonne so verlockend in mein Fenster, hoch im Hôtel Stein, hinein, daß ich noch in letzter Stunde meinen Plan änderte. Ich setzte mich rasch in die vorüberfahrende Bahn auf den Gaisberg und genoß dort obenc einige strahlende Morgenstunden; es fehlte zum vollen Glücke Nichts als die Gesellschaft der beiden lieben Freunde, mit denen ich Tags zuvor nach Park Aigen gefahren war. Um 11 Uhr ging es zu Fuß direct in diesen hinab (ziemlich steil! ‒). ||

In dem Wirthshaus im Park Aigen (das wir gestern verschmäht hatten) genoß ich einen trefflichen „Rehschlegl“ und malte dann, auf unserer Bank, die Skizze vom Watzmann. Wenn Sie nächstes Jahr die Bank wieder besuchen, werden Sie finden, daß Nichts künstlich componirt ist, weder die Umrahmung durch die herrlichen Buchen-Zweige, noch die beiden Buchen links, die sich freundschaftlich umarmen. Ich wollte mit dem Zuge 5 Uhr Nachmittag nach Salzburg fahren und Ihnen die Skizze noch selbst bringen. Da hatte ich aber leider die Rechnung ohne den Wirth gemacht. Die schweren Gewitterwolken, die sich seit 2 Uhr gesammelt hatten, entluden sich in einem sündfluthartigen Regen, der bis zum späten Abend anhielt. Um 6 Uhr kam ich ganz durchnäßt im „Stein“ an. ||

Nachdem ich mich umgezogen und etwas restaurirt hatte, unternahm ich um 7 Uhr noch einen Versuch, die Skizze selbst in der Gärtnergasse 3 abzugeben. Aber neues Pech! Ein neuer Regenguß durchnäßte mich abermals so, daß ich am „Wirthshaus zur Wegscheide“ umkehren mußte und nur noch dem Lichte an Ihrem Fenster einen Abschieds-Gruß zuwinken konnte. Schließlich war es gut so; denn Sie waren ja auch mit den Vorbereitungen zur Abreise vollauf beschäftigt. Abends erfreute ich mich noch der schönen Erinnerungen an die beiden vorigen Tage, und dann ging’s am folgenden Morgen (Sonntag) nach München. – Die Skizze von Landeck entwarf ich am Abend des Tages, an dem ich den Arlberg passirt hatte. ||

Die Skizze vom Lüner-See giebt, glaube ich, ziemlich gut, die Stimmung der lautlosen Einsamkeit wieder, die diesen stillen Hochalpensee (6000 Fuß ü. M.) und sein Felsen Amphitheater (am Fuß der Scesaplana) beherrscht. Übrigens dürfen Sie an meine anspruchslosen Pinseleien (die Sie ja am 4. 9. im „Stein“ schon sahen ‒) keinen künstlerischen Maßstab legen.

– Doch nun genug der Plauderei, theure Freundin! Wollen Sie mich einmal durch einige Zeilen erfreuen, so bitte ich dieselben nach Messina (Hôtel Trinaccia) zu senden. Ich denke dort Mitte Februar einzutreffen und bis Anfang April zu arbeiten. Meine Frau und Tochter (denen es etwas besser geht), bleiben inzwischen an der Riviera wahrscheinlich in San Remo. ||

Das versprochene Bild schicken Sie mir vielleicht sicherer Anfang Mai nach Jena, ebenso Ihr neuestes Kunstwerk, das „daemonische Drama“, auf das ich sehr gespannt bin! Vielleicht lerne ich endlich auch Ihre „unheimliche“ Seite kennen!! –

‒ Herrn Professor Müllner bitte ich freundlichst zu grüßen und ihm das beigelegte Exemplar meiner „Festschrift“ als Andenken zu übergeben.

Mit herzlichsten Grüßen und besten Wünschen

Ihr treu ergebener

Ernst Haeckel.

a eingef.: rohen; b eingef.: als; c eingef.: oben

 

Letter metadata

Verfasser
Datierung
31.01.1897
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
Wienbibliothek, NL Marie Eugenie Delle Grazie
Signatur
H.I.N. 90685
ID
40872