Haeckel, Ernst

Ernst Haeckel an Hermann Allmers, Villafranca-sur-Mer, 27. März 1864

Villafranca bei Nizza, 27. März 1864.

Mein herzlieber Freund!

Endlich will ich mich einmal zusammenraffen und Dir über den entsetzlichen Monat, der hinter mir liegt, zu berichten suchen. Noch nicht sechs Wochen sind verflossen, daß mein Lebensglück zerstört ist, und mir kommt es wie viele, viele Jahre vor. Deinen lieben Brief erhielt ich ein paar Stunden vor meiner Abreise und ersah daraus zu meinem Leidwesen, daß Du mein schreckliches Schicksal zuerst aus der Zeitung erfahren und nicht durch den Brief meines Bruders, der doch samt dem Aquarell vom Arco naturale ein paar Tage früher abgeschickt worden war. Hoffentlich hast Du letzteres nachträglich noch erhalten. Das Aquarell, mein letztes, hatte ich schon in den Weihnachtsferien gemacht, aber immer mit der Absendung gezögert, weil ich hoffte, vorher von Dir noch Antwort auf meinen letzten Brief zu erhalten. Auch wollte Dir meine Anna noch ein paar Zeilen mitschreiben, was sich durch ihr mehrwöchentliches Kranksein immer verschob, bis es zu spät war.

Diese erste Krankheit, eine Brustfellentzündung, welche infolge einer Erkältung sie Mitte Januar befiel, war schon fast gehoben, als ganz plötzlich am 16. Februar die furchtbare Katastrophe hereinbrach. Das Leiden, welches meine Anna in einem Zeitraum von kaum 12 Stunden dahinraffte, ist eine höchst seltene und rätselhafte, stets aber tödliche Krankheit, eine akute Lebererweichung. In der Nacht vom 15. zum 16. Februar befiel es sie unter heftigen Schmerzen; nach 8 Stunden schon hatte sie das Bewußtsein verloren, und nach weiteren 4 Stunden, am 16. Februar 31/ 2 Uhr nachmittags, war mein Glück verschieden.

Am 16. Februar wurde ich gerade 30 Jahre alt; ,,Ich singe Dir morgen: Schier dreißig Jahre bist Du alt, lieber Erni“, hatte sie mir noch abends zuvor lächelnd gesagt, – sie sang es nicht mehr. Um den Hohn des Schicksals voll zu machen, erhielt ich am selben Morgen, wo sie schon mit dem Tode rang, von der Leopoldinischen Akademie die goldene Cothenius-Medaille als Prämie für mein Radiolarienwerk. Anna ahnte zum Glück nicht, wie es kommen sollte; als sie das Bewußtsein um Mittag verlor, glaubte sie noch gar nicht an eine gefährliche Wendung. Das war ein Glück für uns beide; denn ein Abschied mit Bewußtsein wäre noch furchtbarer gewesen. Ich nahm mich aufs äußerste zusammen, um sie nichts merken zu lassen. Als aber das Entsetzliche geschehen war, brach ich zusammen. Acht Tage habe ich, bei halb gestörtem Bewußtsein, unter Fieberphantasien im Bett gelegen. Meine guten Eltern, welche gleich nach dem Ende, auf telegraphischen Ruf, kamen, haben mich gepflegt … Ich bin tot und stumpf, unfähig und überdrüssig zu allem. Ich muß noch zu leben versuchen, um meinen armen alten Eltern, die mich so sehr lieben, nicht noch mehr Kummer zu machen. Sind diese tot, dann werde ich hoffentlich ihnen bald nachfolgen. Innerlich bin ich schon tot und abgestorben für alles. Das Leben, die Natur, die Wissenschaft, nichts hat mehr Reiz für mich. Wie langsam die Stunden schleichen! Jahre dünkt es mich, daß ich dieses einsame, trostlose Einsiedlerleben führe. Und der herrliche kurze Traum, die glückseligen l½ Jahre, wo ich jenes unendlich liebe Geschöpf zur Seite hatte, schwinden in der Erinnerung auf kurze Minuten zusammen. Wie lieb ist es mir, lieber Hermann, daß Du uns noch im vorigen Sommer besucht und die reizende poetische Idylle, die ich durchlebt habe, hast kennen lernen. Das war wirklich ein realisiertes Ideal! Es ist nun für immer dahin! ... Vielleicht besuchst Du mich einmal, lieber Hermann. Das wäre vielleicht noch ein Lichtstrahl in der Grabesnacht meiner Existenz …

 

Letter metadata

Verfasser
Empfänger
Datierung
27.03.1864
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
Original verschollen
ID
40732