Ernst Haeckel an Walter de Gruyter, Jena, 17. Juni 1919

Ernst Haeckel „natürliche Schöpfungsgeschichte, 12. Auflage.

Vorschläge für den Verlag, Georg Reimer, Berlin 1919.

Herrn Dr. Walter de Gruyter, Genthiner Str. 38, Berlin W 10

Jena 17. Juni 1919.

Hochgeehrter Herr Doctor!

Mit Bezugnahme auf Ihre beiden geschätzten Mitteilungen von 2. und 5. Juni, und auf Ihre mündliche Unterredung mit meinem Archivar Dr. phil. Heinrich Schmidt (in Berlin am 6.6.), teile ich Ihnen heute nachstehende Ergebnisse meiner Bemühungen mit.

Die beiden letzten Wochen habe ich benutzt, um die letzte (Elfte) Auflage der „Natürlichen Schöpfungsgeschichte“ (1909) im Zusammenhange kritisch zu revidieren und die möglichst günstigen Bedingungen für die baldige Herstellung der wünschenswerten 12. Auflage zu erörtern. Ich befinde mich dabei in erfreulicher Übereinstimmung mit Ihnen in folgenden wichtigen Punkten:

– 1. Obgleich seit Publication der ersten Auflage des Buches (1868) volle 50 Jahre verflossen sind (– und seit der elften Auflage (1909) 10 Jahre –), und obgleich seitdem die betreffenden Literatur grosse Fortschritte gemacht hat, behält dennoch das Werk bleibenden Original-Wert: I. als erster Versuch, die moderne Entwickelungslehre (nach Darwin) einem grösseren Leserkreise in populaerer Form verständlich zu machen; II. als erster Entwurf eines neuen phylogenetischen Systems (mit zahlreichen Stammbäumen und Tabellen); III. als erste populaere Grundlegung der neuen monistischen Philosophie, deren wesentliche Sätze ich 1866 in meiner „Generellen Morphologie“ (– ohne Erfolg –) geltend zu machen versucht hatte. Das Buch wird demgemäss seit längerer Zeit zur „Classischen“ und grundlegenden Literatur der modernen Naturwissenschaft gezählt, wie auch die Verbreitung durch zahlreiche Übersetzungen bestätigt. ||

– 2. Für die Zukunft erscheint demnach – auf alle Fälle – eine neue (12.) Auflage der „Natürlichen Schöpfungsgeschichte“ sehr wünschenswert und ihr bleibender Erfolg gesichert.

– 3. Die Herstellung einer „Billigen Volksausgabe“ – seit langer Zeit vielfach gewünscht, und auch von mir wiederholt in Erwägung genommen – erscheint zur Zeit (– unter den höchst ungünstigen politischen und wirtschaftlichen Verhältnissen! –) unausführbar.

– 4. Die Herstellung einer erweiterten und reich illustrierten „Luxus-Ausgabe“ – oder „Bilderausgabe“ – (– wie sie von sachkundigen Naturforschern und dilettierenden Naturfreunden oft gewünscht wurde –) ist aus denselben Gründen unausführbar. Auch würde meine Zeit und Arbeitsfähigkeit zu deren Umarbeitung nicht mehr ausreichen.

– 5. Demnach bleibt zur Zeit nichts übrig als die Herstellung der 12. Auflage durch Abdruck der letzten (wenig oder nicht veränderten) 11. Auflage (1909), unter Benutzung der noch erhaltenen Schriftrollen der Setzmaschine. Mit Rücksicht auf die jetzigen hohen Preise des Papiers und der Arbeitslöhne muss der Umfang möglichst stark eingeschränkt werden.

– 6. Die 30 Tafeln, die zur Illustration unentbehrlich sind, aber in der bisherigen Form wegen des jetzigen Mangels an Kupferdruckpapier und der hohen lithographischen Druckkosten nicht wieder hergestellt werden können, müssen jetzt durch ein billiges Lichtdruckverfahren hergestellt werden.

– 7. Über die Höhe der Auflage (3000 – oder 6000? –) sowie des Honorars (nach Vorschlag 10.000?) können wir uns später leicht verständigen, nachdem die Wahl zwischen den beiden – mir jetzt möglich scheinenden! – folgenden Projekten der Drucklegung (12 A oder 12 B) getroffen sein wird. ||

– 8. Notanda zur Geschichte der „Natürlichen Schöpfungsgeschichte“ (I. Aufl. 1868; – VIII. Aufl. 1889 (2 Teile); – XI. Aufl. 1909).

Die I. Aufl. 1868, enthielt 568 Seiten Text und 8 Tabellen; –

Die II.-VI. Aufl 1870-1875 – 688 – 16 Tafeln, 20 Tabellen –

Die VII. Aufl. umgearbeitet – 718 – (1879), 27 Tabellen –

Die VIII. Aufl. – XI. Aufl., 832 – (1889) in 2 Teilen

Die IX.-XI. Aufl., 1898-1909, 832 – mit 30 Tafeln (permanent!)

– 9. Da jede der bisherigen 11 Auflagen von mir persönlich bei sorgfältiger Korrektur mindestens 2 mal (oft 3 mal) hinsichtlich stylistischer und sachlicher Verbesserung sorgsam durchgesehen wurde, hat der Text diejenige Vollendung erreicht, die mir nach Maaßgabe meiner Kräfte und Kenntnisse möglich war. Wesentliche Kürzungen und Streichungen sind jetzt nicht mehr auszuführen, ohne den inneren Zusammenhang des einheitlichen ganzen Gedanken-Gebäudes zu zerstören.

– 10. Die neunte Auflage (1898) – in 2 Teilen – mit 832 Seiten u. 30 Tafeln – umgearbeitet auf Grund der inzwischen erschienenen „Systematischen Phylogenie“ (1894-96) – muß demnach im Wesentlichen unverändert für die neue XII. Aufl. als Grundlage dienen. Wegfallen kann jedenfalls das – im Text wiederholte! – „Inhalts-Verzeichnis“ S. XXIV-XXXVII – und ein Teil des früheren Vorworts etc. (zusammen circa 2 Druckbogen).

– 11. Das beste Projekt der Drucklegung scheint mir, – (– 12 A –) der unveränderte Abdruck des ganzen Textes S. 1-832 – mit dem Register 52 Druckbogen –; es bleiben dann unverändert bestehen die sämmtlichen Seiten-Überschriften (Columnen-Titel), die Zahlen-Hinweise, die Tabellen und Stammbäume, die Seitenzahlen und Inhalts-Angaben der 30 Vorträge. Im Ganzen sind dann (als Druckfehler oder Berichtigungen) kaum 20-30 Worte zu ändern.|

12. A. Im neuen Vorwort zur 12. Aufl. würde ich dann ausdrücklich betonen, daß dieselbe nicht ein vollständiges Bild der gegenwärtigen Entwickelungslehre (1919 oder 1920) giebt, sondern vielmehr ein Bild ihres Standes am Ende des 19. Jahrhunderts, – wie ich selbst persönlich sie begründet habe. Ich beziehe mich dabei auf das Vorwort zur I. Auflage der „Welträthsel“ (1899) – dem philosophischen Ergänzungs-Werk. In den letzten 20 Jahren (seit 1901) habe ich meine Kraft anderen Arbeiten zugewendet. –

12 B. Wenn Sie das zweite Projekt der Drucklegung vorziehen (wie Sie es in Ihrem Brief vom 2. Juni andeuteten), nämlich Kosten-Ersparnis durch Verengerung des Zeilen Durchschusses, würde allerdings durch „Komprimierung von 57 auf 45 Bogen“ eine bedeutende Ersparnis von Druckpapier erreicht (– dessen Preise doch wohl bald wieder fallen werden? –) – aber dieser Gewinn würde wohl nicht in’s Gewicht fallen gegenüber der gewaltigen Mehr-Arbeit, welche die vollständige Veränderung des bisherigen Satzes erfordern würde, die neue Einteilung der Columnen, die neuen Columnen-Titel, die neuen Zahlen-Hinweise, neue Korrekturen. Äußerlich würde der Text sehr verlieren durch die zu sehr gedrängten Zeilen – abgesehen von zahlreichen Druckfehlern und Versehen, die bei der neuen Ordnung der Schriftrollen und der Setzmaschine wahrscheinlich sich einstellen würden. Ich überlasse es Ihrer sachkundigen Kalkulation zu berechnen, ob nicht die Kosten dieses zweiten Projektes (12 B ) beträchtlich den Preis des ersten übersteigen würden. Jedenfalls würde die Arbeit für 12 B viel längere Zeit in Anspruch nehmen, als 12 A, nach welchem der neue Druck sofort (ohne Setzer-Arbeit!) begonnen werden könnte.

Ich selbst bin stets bereit, mich Ihren Wünschen zu fügen; aber freilich muß ich (mit 85 Jahren!) wünschen, diese letzte Arbeit bald im Zusammenhange auszuführen!. –

Hochachtungsvoll

Ihr Ernst Haeckel.

Brief Metadaten

ID
40703
Gattung
Brief ohne Umschlag
Entstehungsort
Entstehungsland aktuell
Deutschland
Entstehungsland zeitgenössisch
Deutsches Reich
Zielort
Zielland
Deutschland
Datierung
17.06.1919
Sprache
Deutsch
Umfang Seiten
4
Umfang Blätter
2
Besitzende Institution
Staatsbibliothek Berlin PK, Verlagsarchiv Walter de Gruyter
Signatur
M 7704 Dep. 42, Gr., Haeckel, Ernst, Bl. 4r-5v
Zitiervorlage
Haeckel, Ernst an Gruyter, Walter de; Jena; 17.06.1919; https://haeckel-briefwechsel-projekt.uni-jena.de/de/document/b_40703