Ernst Haeckel an Georg Reimer, Meran, 15. September 1862
Herrn
Georg Reimer.
Meran 15. September 62.
Lieber Georg!
So eben erhalte ich einen Brief von meinem Bruder Karl, worin sich zu meiner großen Überraschung die Frage befindet, ob ich denn die letzten Correcturbogen in Ischl oder München richtig erhalten habe? Wie Du aus meinem Stillschweigen bereits errathen haben wirst, ist dies nicht geschehen. Ich habe weder in Ischl noch in München Correcturbogen erhalten, obgleich ich später dahin kam, als beabsichtigt war, und obwohl ich mehrmals ausdrücklich auf der Post nach Briefen und Kreuzbandsendungen angefragt habe. Ich hatte mir daher mit Sicherheit eingebildet, daß keine weitere Correctur nöthig geworden sei und daß die Radiolarien bereits in den letzten Wochen das Licht der Welt erblickt haben würden. ||
Ich vermuthe nun zwar, daß dies jetzt, nachdem Du so lange vergeblich auf die verlorene Correctur gewartet hast, auch wohl geschehen sein wird, und daß im gegenwärtigen Augenblick Alles längst fertig ist. Sollte dies jedoch nicht der Fall sein und solltest Du etwa noch a einen der letzten Bogen gesetzt haben stehen lassen, um wegen etwaiger besonders wichtiger Bedenken und Zweifel erst Entscheidung abzuwarten, so bitte ich Dich, die betreffenden Bogen baldigst unter meiner Adresse nach München, Bamberger Hof, zu schicken, wo ich heute über 8 Tagen einzutreffen gedenke. Ich werde sie dann sofort revidirt zurückschicken. Der Zettel, den Dir Karl vielleicht noch nachträglich gegeben hat, mit der Diagnose von Lithomelissa Tartari, sollte dem Zusatz (ich glaube IV) angehängt werden, der die „Diagnosen einiger zweifelhafter Arten, nach Ehrenberg“ enthielt. Es ist aber auch kein Unglück, wenn jene ganz wegbleibt. ||
Unsere schöne Reise ist nun bereits in die fünfte Woche eingetreten, und geht mit der nächsten, sechsten, die wir in München zubringen wollen, zu Ende. Heute über 14 Tage denken wir in Jena einzutreffen. Die letzten 8 Tage haben wir in Tyrol zugebracht (im Stubaythal, Sill- und Eisackthal) bei veränderlichem Wetter, welches unseren Plan, die Stubayer und Ötzthaler Ferner zu besuchen, vereitelte. Dagegen hatten wir die vorhergehenden 14 Tage im Salzkammergut und in Salzburg außerordentlich schönes Wetter und waren in jeder Beziehung sehr vom Glück begünstigt. In Salzburg trafen wir grade zur Feier des 7ten Deutschen Künstlerfestes ein, von dem Du in den Zeitungen gelesen haben wirst. Das Mönchsbergfest war sehr hübsch. Auch Herr von Schmeeling der dabei eine große Rolle spielte, war zu sehen. ||
Da ich die von uns durchreisten Gegenden schon von meiner früheren Studenten-Reise her kannte, so machte es b mir doppelte Freude, sie jetzt mit meiner Frau wieder zu sehen, die überc all die neuen schönen und großartigen Eindrücke ganz glückselig ist. Mir waren noch neu die Eisenbahnen nach Salzburg und Innsbruck die außerordentlich schöne und mannichfaltige landschaftliche Ansichten in Fülle darbieten. Sehr überrascht hat mich der fabelhafte Enthusiasmus für deutsche Einheit, der hier überall florirt. In Salzburg waren beim Künstlerfeste fast alle Häuser mit schwarz-roth-goldenen, fast kein einziges mit österreichischen Fahnen verziert. Überhaupt ist allenthalben ein außerordentlicher Fortschritt in politischer und sozialer Bildung unverkennbar, wenigstens gegen das Österreich, das ich 1855 kennen lernte.
Grüße Deine liebe Mutter, Frau und sonstige Lieben, die sich unserer erinnern, herzlichst. Mit freundlichem Gruß
Dein
E. Haeckel.
a gestr.: den; b gestr.: uns; c gestr.: von; eingef.: über;