Ernst Haeckel an Konrad Deubler, Jena, 15. Oktober 1877

Jena, 15. Oktober 1877.

Mein lieber guter Freund!

Gestern aus Ober-Italien zurückgekehrt, fand ich hier unter einem Haufen von Briefen den Ihrigen vor und er soll einer der ersten sein, die ich beantworte. Wie unendlich leid es mir thut, daß ich Sie in München nicht gesehen und gesprochen habe, kann ich Ihnen gar nicht sagen. Warum haben Sie mich nicht aufgesucht und angeredet? Diesen Fehler kann ich Ihnen wirklich kaum verzeihen.

Welche Freude wäre es mir gewesen, wenn Sie mich dort begrüßt hätten! Die Nähe eines solchen treuen Freundes würde mich ermuthigt und mit mehr Zuversicht erfüllt haben. Sie müssen wissen, daß die große Mehrheit der Naturforscher meine Gegner waren; ich gehe Ihnen „viel zu weit“. – In der 3. öffentlichen Sitzung (am Samstag, 22. September) hat der berühmte Virchow (früher Führer der Fortschrittspartei) dieser Ansicht Ausdruck gegeben und mich ungefähr ebenso angegriffen, wie das „Vaterland“ oder die „Kreuzzeitung“.

Ich war mit meiner Frau, die ebenfalls unendlich bedauert, Sie nicht gesehen zu haben, nur drei Tage in München: Montag, Dienstag und Mittwoch. Am Dienstag Abend waren wir im „Tannhäuser“, wo Sie auch waren! Mittwoch Abends 5 Uhr reisten wir über Rosenheim nach Kufstein, Donnerstag über den Brenner nach Trient, dann Verona, Mailand, Genua, über Turin und Genf zurück. Am Mittelmeer fischte ich längere Zeit nach Medusen. Meine Frau, welche das Mittelmeer und Italien noch nicht gesehen hatte, war ganz entzückt davon, das Wetter sehr schön. Eigentlich hatten wir die Absicht gehabt, acht Tage vor München bei Ihnen zuzubringen und uns sehr darauf gefreut. Aber dann kam so Viel dazwischen, Besuch aus England etc., daß wir unsere Absicht aufgeben mußten. Nächstes Jahr hole ich aber diesen lieben Besuch gewiß nach.

Sie fragen, lieber Freund, warum so viele unserer besten Naturforscher am „Kosmos“ nicht mitarbeiten? Die Gründe sind sehr verschieden, meist kleinlicher oder persönlicher Natur. Viele haben auch Angst vor meiner „radikalen Richtung“. Vorwärts geht’s aber doch!

Die Münchener Reden und ihre Widersprüche, das offene Begegnen der verschiedenen Ansichten haben aber doch ihr Gutes gehabt, und ich hoffe, sie sollen noch lange Nachwirkung haben. So sehr mich die „Halben“ verketzern, so warme Zustimmungen empfange ich von den „ganzen Leuten“! Wenn nur Viele so klar und konsequent dächten, wie Sie, liebster Freund! Gerade unter den Naturforschern gehört das eben zu den größten Seltenheiten.

Obgleich ich Ihnen eigentlich über Ihr Münchener Inkognito sehr böse bin, lieber Freund, und meine Frau Ihnen gar nicht verzeihen kann (warum haben Sie uns nicht wenigstens im „Rheinischen Hof“ aufgesucht?), so muß ich Ihnen doch von Herzen die Hand drücken und bitten, mir Ihre treue Freundschaft und Zuneigung zu bewahren. Nächstes Jahr besuche ich Sie. – Mit herzlichsten Grüßen von mir und meiner Frau

Ihr treu ergebener

Ernst Haeckel

Brief Metadaten

ID
40223
Gattung
Brief ohne Umschlag
Empfänger
Entstehungsort
Entstehungsland aktuell
Deutschland
Entstehungsland zeitgenössisch
Deutsches Reich
Datierung
15.10.1877
Sprache
Deutsch
Besitzende Institution
Unbekannt
Zitiervorlage
Haeckel, Ernst an Deubler, Konrad; Jena; 15.10.1877; https://haeckel-briefwechsel-projekt.uni-jena.de/de/document/b_40223