Jena 15.12.1905.
Hochverehrter und lieber Freund!
Nach langem Schweigen bitte ich Sie durch die Hand Ihrer lieben Frau Tochter mir eine kurze Mittheilung über Ihr Ergehen zukommen zu lassen; ich denke oft an Sie und freue mich, wenn in monistischen Schriften Ihrer hohen Verdienste um die Förderung des Monismus rühmlichst gedacht wird. Nach vielen Mühen ist jetzt endlich die Gründung des „Deutschen Monistenbundes“ (– auf Grund der Thesen, die ich Ihnen vor einem Jahr übersandte, im „Freien Wort“, September 1904) zu Stande gekommen, unter reger Theilnahme vieler trefflicher Männer und Frauen. || Der betreffende kurze Aufruf soll in nächster Woche gedruckt werden und die Unterschriften von nur 36–40 auserlesenen Männern tragen; es sind dafür bereits eine Anzahl unserer angesehensten und besten Männer, Freidenker, Anticlericale und liberale Humanisten gewonnen. Ihr teurer und allgemein verehrter Name, als furchtloser Vorkämpfer ethischer Cultur und freien Denkens, darf dabei nicht fehlen. Ich bitte Sie also, mir durch die Hand Ihrer lieben Tochter (möglichst umgehend!) eine Postkarte zu senden, mit den zustimmenden Worten: „Unterschrift zum Aufruf einverstanden“. ||
Von mir kann ich Ihnen leider nichts Gutes melden. Meine Gesundheit hat durch die übermäßigen Arbeiten der letzten zehn Jahre stark gelitten. Seit ½ Jahre leide ich an Schlaflosigkeit, rheumatischen und Herzbeschwerden. Die Vorlesungen für dieses Semester (– mein 90.stes in Jena) habe ich aufgeben müssen und hüte seit 3 Monaten das Zimmer. Glücklicherweise ist die Gesundheit meiner Frau, die seit 20 Jahren so Viel zu leiden hatte, jetzt besser als früher. Vielleicht trete ich die mysteriöse Reise in’s „Jenseits“ (??) noch früher an als Sie! Am liebsten würde ich sie in Ihrer liebenswürdigen Gesellschaft ausführen!! ||
Mit den besten Wünschen für Ihr Wohlergehen und mit den freundlichsten Grüßen an Sie und Ihre lieben Kinder
Ihr treuer alter
Ernst Haeckel.