Ernst Haeckel an Bartholomäus von Carneri, Jena, 9. Oktober 1902
Jena 9. Octbr. 1902.
Hochverehrter und geliebter Freund!
Ihre lieben Zeilen, mit recht zitternder Hand und im Kampfe mit Ihren leidenden Nerven geschrieben, haben mich tief gerührt. Ich danke Ihnen dafür herzlich und wünsche von ganzer Seele, daß Ihre Leiden Ihnen unter der treuen Pflege Ihrer lieben Kinder möglichst erträglich bleiben und daß Mutter Natur mit einem ihrer edelsten und höchstentwickelten Geschöpfe – mit dem Ideale des „Modernen Menschen“, das Sie verkörpern! – Mitleid haben möge! ||
Uns ist es in diesem Sommer (– der eigentlich ein „grüner Winter“ war, immer kalt und naß –) leidlich ergangen. Das Nervenleiden meiner armen Frau hält sich jetzt in mäßigen Grenzen. Ich hatte viel Arbeit mit meinen Indischen Sammlungen etc.
Von den „Welträtseln“ ist die VIII. Auflage (16.000) unverändert erschienen, ebenso die X. Auflage der „Natürlichen Schöpfungsgeschichte“, weßhalb ich sie Ihnen nicht geschickt habe. Die 3 letzten Hefte der „Kunstformen“ sind in Arbeit und werden Ihnen im Laufe nächsten Jahres zugehen. ||
Eine 6 wöchentliche Erholungsreise im August u. September (Eifel, Vogesen, Allgäu, Tyrol, Brescia, Garda See) hat mich recht erfrischt.
Der große philosophische Kampf um die „Welträtsel“ dauert noch immer fort und ist jetzt auch in Nordamerika sehr lebhaft. Aber unser „Monismus“, in dem Sie mein treuer Bundesgenosse sind, macht stetige Fortschritte, wenn auch langsam. Den Sieg werden wir Beiden freilich nicht erleben!
Mit herzlichsten Grüßen und besten Wünschen – auch für Ihre lieben Kinder –
Ihr treuer alter
Ernst Haeckel.
Verte! ||
P. S. Die beiden trefflichen kleinen Schriften von Kroell „Aufbau der menschlichen Seele“ (Leipzig 1900) und die „Seele im Lichte des Monismus“ (Strassburg 1902) werden Sie sehr interessieren.