Jena 1. Juli 1896.
Lieber u. verehrter Freund!
Ihren lieben Brief hätte ich längst beantwortet, wenn nicht Übermaß dringender Arbeit mich behindert hätte, u. daneben meine Stimmung in Folge schwerer häuslicher Sorgen immer sehr trübe gewesen wäre. Meine arme Frau, deren zarte Gesundheit alljährlich mehr abnimmt, ist seit 8 Monaten nicht aus dem Haus gekommen; in Folge von Influenza hat sich bei ihr ein bedenkliches Herzleiden entwickelt. Dazu leiden wir beide sehr durch Sorge um unsere jüngere Tochter, Emma (jetzt 22 Jahr). ||
Das arme Mädchen, übermäßig sensibel und zu pessimistischen Reflexionen geneigt, scheint einer dauernden Melancholie zu verfallen. Ein junger hiesiger Arzt, der sie sehr verehrte und sich vermuthlich mit ihr verlobt hätte, starb vor einem Jahre plötzlich, in Folge einer Sections-Vergiftung. Dieser Verlust beschäftigt sie fast ausschließlich. – Jetzt habe ich (vor 8 Tagen) Frau u. Tochter zur Cur nach Friedrichroda gebracht, aber mit geringer Hoffnung auf Besserung. Ich selbst werde bei diesen beständigen Sorgen und bei zunehmender Vereinsamung (– unter meist viel jüngeren Collegen –) auch alt und habe Viel von meinem guten Humor verloren. || Ich arbeite ununterbrochen am letzten (III.) Theil meiner Systematischen Phylogenie u. bin froh, daß ich diese schwere u. undankbare Arbeit bald fertig habe. Ich habe Ihnen dieselbe nicht geschickt, weil sie nur für Fachleute verständlich ist; diese kümmern sich aber um die zahlreichen neuen Ideen die darin enthalten sind, nicht im Mindesten; es sind ja keine neuen „exacten Beobachtungen“.
– Im August oder September hoffe ich endlich einmal wieder in die Alpen zu kommen; wenn mein Fuß auch nicht ganz wieder normal wird, kann ich doch einige Stunden wieder Berg steigen. ||
Daß es Ihnen leidlich geht und Sie Ihr altes Leiden immer mit Ihrem herrlichen philosophischen Gleichmuth tragen, gereicht mir zur Beruhigung und zugleich zum leuchtenden Beispiel!
Mit besten Grüßen an Sie und Ihre lieben Kinder
Ihr alter treuer
Ernst Haeckel
P. S. Für die freundliche Sendung der hübschen Novellen von Marie Stona herzlichen Dank. Jetzt liest sie meine Frau; dann schicke ich sie Ihnen wieder.