Ernst Haeckel an Bartholomäus von Carneri, Jena, 17. Juni 1895

Jena 17. Juni 1895.

Lieber u. hochverehrter Freund

Aus Ihrem lieben Briefe ersehe ich zu meiner Freude, daß Ihre zufriedene Stimmung und Ihr göttlicher Humor (– eine der besten Erdengaben! –) Sie als wahren monistischen Philosophen nicht verlassen hat, trotz aller Plagen des Alters, u. trotz Ihrer besonderen Leiden!

Ich habe mich im letzten Jahre sehr Viel mit Ihnen u. mit Ihrer Freundin, Eugenie delle Grazie beschäftigt! Den bewunderungswürdigen „Robespierre“ habe ich vor 4 Wochen (– nach vielen unliebsamen, bei mir leider unvermeidlichen –) Unterbrechungen zu Ende gelesen. ||

Ich stimme ganz dem Urtheile bei, welches Sie in der Neuen Freien Presse (– in ausgezeichneter Weise zusammengefaßt –) abgegeben haben. Die Dichterin, die sich als meine Schülerin betrachtet, wünscht daß ich ebenfalls eine Kritik des großartigen, unsere Weltanschauung in so wunderbarer Form verherrlichenden Epos (etwa in der „Zukunft“) schreiben möchte. Derartige Aufgaben fallen mir außerordentlich schwer, da sie eigentlich außerhalb meines Urtheils-Bereiches liegen. Ich habe bereits zwei mal einen vergeblichen Ansatz dazu gemacht; vielleicht gelingt es das dritte Mal! ||

Meine Arbeitskraft ist dieses Jahr ganz absorbirt durch die Vollendung des III. Theils meiner „Systematischen Phylogenie“ (Wirbelthiere, cc. 40–50 Druckbogen) er wird im August oder September erscheinen. Ich schicke Ihnen diese trockene Arbeit nicht, da sie nur für Fachleute lesbar u. verständlich ist, und (ohne Abbildungen, leider!) gründliche anatomische, embryologische u. palaeontologische Special-Kenntnisse voraussetzt. Es sind darin zahlreiche neue Ideen, u. vielleicht auch manche gute u. wichtige. Ich fürchte aber, daß das mühsame Werk (– wenn überhaupt! –) erst spät u. langsam Anerkennung u. Verständniß finden wird. ||

Im Übrigen geht es mir leidlich gut, wenngleich Gedächtniß u. Arbeitskraft abnimmt. Meine arme Frau war leider wieder längerer Zeit krank; jetzt geht es wieder leidlich. In der II. Hälfte August oder im September gehe ich hoffentlich auf einige Wochen nach Tyrol. Vielleicht mache ich dann einen kleinen Abstecher nach dem Wörther See, um Sie, wenn auch nur flüchtig, zu begrüßen.

Über die Auszeichnung, mit welcher Sie Alexander Tille in seiner „Entwickelungs-Ethik“ (– von Darwin bis Nietzsche –) behandelt, u. wie trefflich er Ihre Philosophie auf die Social-Probleme anwendet, habe ich mich herzlich gefreut! Mit besten Grüßen

Ihr treuer alter

Ernst Haeckel

Brief Metadaten

ID
40187
Gattung
Brief ohne Umschlag
Entstehungsort
Entstehungsland aktuell
Deutschland
Entstehungsland zeitgenössisch
Deutsches Reich
Datierung
17.06.1895
Sprache
Deutsch
Umfang Seiten
4
Umfang Blätter
2
Format
13,9 x 21,9 cm
Besitzende Institution
Wiener Stadt- und Landesbibliothek, Slg. Wilhelm Börner
Signatur
H.I.N. 167242
Zitiervorlage
Haeckel, Ernst an Carneri, Bartholomäus von; Jena; 17.06.1895; https://haeckel-briefwechsel-projekt.uni-jena.de/de/document/b_40187