Jena 14.7.1919.
Hochverehrte gnädige Frau!
Durch die freundliche Zusendung Ihrer letzten Porträt-Karte (vom 80. Geburtstage) und das begleitende teilnehmende Schreiben haben Sie mich hocherfreut, ebenso wie durch Ihre duftenden Rosen!
Indem ich Ihnen für diese wertvollen Beweise ihres freundschaftlichen Gedenkens meinen herzlichsten Dank abstattete, verbinde ich damit zugleich den Wunsch, daß Ihnen der Sommer-Aufenthalt auf Ihrer geliebten Feste Heldburg, der herrlichen „Fränkischen Leuchte“, reichen Naturgenuß und erfreuliche Stärkung der Gesundheit bringen möge. ||
Daß Ihnen unsere hochverehrte Frau Großherzogin von Weimar für einige Zeit auf der Heldburg Gesellschaft leistet und daß Sie dabei die schönen Erinnerungen an die verflossenen besseren Zeiten auffrischen können, wird Ihnen gewiß besonders erfreulich sein. Ich bitte Sie, die ehrenvollen Grüsse, welche Ihre Königliche Hoheit Ihnen für mich beigefügt hat, ehrerbietigst zu erwidern. Die vielen kostbaren Erinnerungen, welche mich seit so langen Jahren mit den beiden edelsten Fürsten Thüringens, mit Großherzog Karl Alexander von Weimar und mit Herzog Georg von Meiningen verknüpft haben, bleiben mir unvergeßlich. ||
Seit vorgestern ist nun die entsetzliche „Hunger-Blockade“, welche Millionen von Menschen das Leben gekostet hat, endlich aufgehoben. Damit ist der beispiellose Weltkrieg, der volle 5 Jahre im Namen der „Christlichen Nächstenliebe“ unsere Europäische Kultur verwüstet hat, äußerlich abgeschlossen. Aber ich fürchte, daß die trostlosen Folgen des sogenannten „Friedens“ – mit dem Phantom des Wilson‘schen „Völkerbundes“ – nun erst recht sich geltend machen werden. Ich bedaure meine Kinder und Enkel, wie die ganze neu aufwachsende Generation, und fürchte, daß die vielgepriesene „Sozialisierung“ nicht die gehofften Früchte bringen wird. ||
Was mich persönlich betrifft, so bin ich – ehrlich gestanden – froh, daß ich bald endgültige „Erlösung von allem Übel“ finden werde. Meine Gesundheit nimmt seit einem halben Jahre so ab, daß ich nur noch wenige (2 oder 3) Monate fürchten muß, dem Trauerspiele unseres Kultur-Untergangs beiwohnen zu müssen.
Beiliegende ältere Kleinigkeiten („Seelenzellen“, Wien, 1878, und „Gott-Natur“, Jena, 1914) besitzen Sie vermutlich schon? In diesem Falle bitte ich sie beliebig zu verschenken.
Mit wiederholtem herzlichsten Dank für alle Freundschaftsbeweise und mit besten Wünschen für Ihr Wohlergehen
Ihr treu ergebener
Ernst Haeckel.