Potsdam 14. Sept. 86
Lieber und hochverehrter Freund!
Ihren lieben letzten Brief erhielt ich in den letzten Juli-Tagen, unmittelbar vor Antritt meiner Ferien-Reise; sonst hätte ich Ihnen schon längst geantwortet! Bei meiner Rückkehr, in voriger Woche, überraschte mich die gütige Zusendung Ihrer ethischen Essays über Entwicklung und Glückseligkeit. Obgleich sie mir schon größtentheils bekannt sind, freue ich mich doch schon jetzt auf den hohen Genuß, welchen mir ihre zusammenhängende Lectüre an den stillen Abenden des kommenden Winters bereiten wird, und auf die vielfache neue Anregung, die sie mir geben werden! || Herzlichsten Dank für dieses neue werthvolle Geschenk, und für die vielfache freundschaftliche Anerkennung, die Sie meinen darwinistischen Arbeiten schenken. Ich freue mich sehr über unsere volle Übereinstimmung im Großen und Ganzen. Die kleinen Differenzen im Einzelnen sind unwesentlich. Darüber, wie auch über Spitzers’ Buch (das neben vielem Vortrefflichen doch große Einseitigkeiten enthält und manche schwere Fehler!) wollen wir uns im nächsten Frühjahr mündlich unterhalten; ich hoffe Sie dann in Graz (oder Triest?) wiederzusehen. ||
Ich denke, in den letzten Tagen des Februar (oder Anfang März) über Wien und Graz nach Triest zu gehen, dann 2 Monate im östlichen Mittelmeer zu fischen, und Ende April auf demselben Wege zurückzukehren. Entweder auf der Hin- oder Rückreise – oder am liebsten auf beiden – hoffe ich schöne Stunden freundschaftlichen Gedanken-Austauschs mit Ihnen zu verleben. Ich empfinde schon jetzt die Vorfreude dieser schönen Zeit, um so mehr, als die Riesenschlange der „Challenger-Radiolarien“, (in deren Banden ich nun schon ein Decennium liege!) in 2 Monaten endlich überwunden und für immer abgethan sein wird! || Augenblicklich bin ich auf 8 Tage bei meiner lieben, nun 87jährigen Mutter zum Besuche; werde wohl auch einen Blick in die Berliner Kunst Ausstellung und Naturforscher Versammlung thun. 4 Wochen war ich in der Schweiz (Engadin, Walensee) und habe mich von den Arbeiten des Sommers erholt. Viel Freude habe ich an der Ritter-Stiftung für Phylogenie, über welche Sie Nähres in einem Artikel von Prof. Vetter (im Juli-Heft des „Kosmos“) finden. Sonst geht es mir und meiner Familie gut. Hoffentlich geht es auch mit Ihrer Gesundheit wieder besser! Ich habe Ihr neues Leiden herzlichst bedauert. Mit besten Wünschen und wiederholtem Dank
Ihr treuer
Ernst Haeckel