Ernst Haeckel an Bartholomäus von Carneri, Jena, 1. November 1885
ZOOLOGISCHES INSTITUT
Jena
1. Nov. 85
Lieber und hochverehrter Freund
Für Ihre wiederholten freundlichen Zusendungen und Mittheilungen sage ich Ihnen meinen herzlichsten Dank! Ich brauche Ihnen nicht zu versichern, mit wie herzlicher und aufrichtiger Theilnahme ich Ihre unermüdliche Thätigkeit verfolge, sei es als Vorkämpfer der monistischen Philosophie im „Kosmos“, sei es als Vertheidiger des deutschen Liberalismus im Österreichischen Reichsrathe. || Das Räthsel der Oesterreichischen Sphinx scheint immer unlösbarer zu werden! Und diese edlen „Nationalitäten“!
– Über den trefflichen Aufsatz „Der Werth des Denkens“ habe ich mich sehr gefreut, und hoffe, daß er recht zur Klärung der Begriffe beitragen werde. –
Sehr interessant waren mir die erfreulichen Mittheilungen über Ihre liebe Tochter, und besonders, daß sie theils bei Ihnen in Marburg, theils in Pola residiren wird. An beiden Orten hoffe ich Ihr noch zu begegnen. || Pola liebe ich sehr! Ich war dort 2 mal (1871 und 1878) und beidemale von der dortigen Marine auf das Liebenswürdigste aufgenommen.
– Ich habe oft rechte Sehnsucht nach dem Süden, besonders bei dem jetzigen, grauenhaften November-Wetter in Nord-Deutschland. Leider habe ich auch sonst wenig Veranlassung zu heiterer Stimmung, da meine arme Frau wieder 4 Wochen recht krank war und von den heftigen Nieren-Schmerzen geplagt, die ihr seit vielen Jahren das Leben verbittern. Geduld! ||
Den größten Theil des Sommers und der Ferien habe ich an den Radiolarien gearbeitet, und absolvirte gestern den 111ten Correctur-Bogen und die 140ste Tafel! Leider ist das nur die kleinere Hälfte des Ganzen! Indessen hoffe ich doch in diesem Winter den Text zu vollenden, und dann wieder erfreulicheren Aufgaben mich zuzuwenden!
Mit den herzlichsten Grüßen an Sie und Ihre liebe Tochter, und in der Hoffnung, Sie im nächsten Jahre irgendwo mündlicha begrüßen zu können,
Ihr treu ergebener
Ernst Haeckel
a eingef.: mündlich