Haeckel, Ernst

Ernst Haeckel an Bartholomäus von Carneri, Jena, 22. August 1883

Jena 22 Aug 83

Lieber und hochverehrter Freund!

Wenn Sie jedesmal, so oft ich Ihrer gedenke, ein briefliches Gedanken-Telegramm von mir erhalten könnten, müßten Sie schon einen recht stattlichen Band in Händen haben. Leider hat aber Edison diese schöne Erfindung noch nicht gemacht, und so bleiben wir vorläufig noch auf den trägen Feder-Verkehr angewiesen; bei mir um so schlimmer, als die Correspondenz überhaupt durch dringlichere Arbeiten sehr beeinträchtigt wird. Endlich muß ich Ihnen aber doch meinen herzlichsten Dank für Ihren lieben freundschaftlichen Brief und für die wiederholten Zusendungen Ihrer philosophischen Kosmos-Aufsätze abstatten! ||

Es ist nun bereits ein Jahr verflossen, seit ich in Gesellschaft unsers originellen Freundes Königsbrunn Ihre liebe Gastfreundschaft in dem reizenden Wildhaus in vollen Zügen genoß – unvergeßliche Tage reinster Natur und Geistes-Genüsse! Ich war vor 8 Tagen in großer Versuchung, den Besuch, wenn auch nur auf Stunden! – zu wiederholen. Ich benutzte nämlich die kurze diesjährige Ferien-Frist, um die Wanderung in den Tiroler Dolomit-Alpen auszuführen, die wir voriges Jahr besprachen, die ich aber wegen Kürze der Zeit nicht ausführen konnte. Ich wanderte 14 Tage in Ampezzo, Fassa, Gröden, Enneberg umher, vom schönsten Wetter begünstigt, jeden Tag 8–10 Stunden kletternd. ||

Von den wunderbaren Formen und Farben der Dolomit-Alpen brachte ich 30 Skizzen mit nach Hause. Als ich in Toblach auf der Wasserscheide zwischen Etsch und Drau stand, wäre ich lieber ostwärts zu Ihnen, als westwärts nach Hause gefahren! Da es aber die knappe Zeit nicht zuließ, bestellte ich wenigstens der jugendlichen Drau-Nymphe herzlichste Grüße für Sie und warf ihr eine Visiten-Karte zu, die sie hoffentlich richtig abgeliefert hat! Meine Ferien sind diesmal so kurz, weil der große doppelte Umzug – in das neue zoolog. Museum und in mein neues Häuschen („Villa Medusa“!) in diesen Tagen bevorsteht; eine kolossale Umwälzung, mit dem angenehmen Hintergedanken, daß sie für dieses Leben sicher die letzte ist! ||

Die Vorbereitungen für diese Doppel-Katastrophe haben einen großen Theil des letzten Jahres absorbirt; der übrige Theil war fast ganz der großen Radiolarien-Arbeit für den „Challenger“ gewidmet; 100 Tafeln sind jetzt fertig, 30 noch zu vollenden! Im Übrigen geht es mir und meiner Familie recht gut! Wir freuen uns sehr auf die idyllische Existenz in unserm neuen, ganz in Garten-Grün eingebetteten Daheim! Keine größere Freude könnte mir werden, als wenn Sie mit Ihrer lieben Fritzi bald unsere bescheidene Gaststube einweihen wollten. Fassen Sie einen kühnen Entschluß und sehen Sie sich einmal das „närrische kleine liebe Nest“, unser Saal-Athen an! Mit offenen Armen wird Sie empfangen Ihr treu ergebener Freund

Ernst Haeckel

P. S. Ergebenste Grüße an die verehrten Damen! ||

P. S. Ein Wort doch noch über Fritz Schultzes’ „Philosophie der Naturwissenschaft“! – Ihr Entsetzen über einzelne Parthien des II. Bandes theile ich vollkommen. Ich kannte diese damals nicht, als ich Ihnen das Buch empfahl. Der erste Bd. enthält wirklich viel Gutes, namentlich die ersten Abschnitte. Erst kürzlich habe ich auch die spätern Parthien angesehen, an denen mir Vieles in der That unbegreiflich ist. Manche glauben, daß der Verfasser absichtlich (– wie Du Bois u. so viele Andere! –) zwei verschiedene Buchhaltungen führen, und daß er seine monistischena Kehrreime durch dualistische Spiegelfechtereien quitt machen wolle! Ich kenne ihn nicht genau genug, um dies zu beurtheilen. Jedenfalls halte ich eine Besprechung Ihrerseits für sehr verdienstlich!

a eingef.: monistischen

 

Letter metadata

Verfasser
Datierung
22.08.1883
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
Wiener Stadt- und Landesbibliothek, Slg. Wilhelm Börner
Signatur
H.I.N. 167205
ID
40125