Haeckel, Ernst

Ernst Haeckel an Friedrich Rolle, Jena, 28. Dezember 1868

Jena 28. Dec. 68.

Hochgeehrter Herr College!

Durch Ihren freundlichen Brief und die gütige Zusendung Ihrer paläontologischen Abhandlungen haben Sie mich sehr erfreut. Nehmen Sie für Beides meinen herzlichen Dank. Ihre Bemerkungen über die Genealogie haben mich sehr interessirt, ebenso wie das, was Sie über die Cyclidien mittheilten.

In Betreff der Chitonen haben Sie gewiß recht. Ich habe sie in meinem System eben auch nur zu den delocephalen Schnecken gestellt, weil ich sonst eine ganz besondere Unterklasse daraus hätte bilden müssen, und dies bei meiner geringen Kenntniß gerade dieser Thiere nicht zu thun wagte. ||

Überhaupt werden Sie leicht bemerkt haben, daß gerade das System und der Stammbaum der Mollusken der schwächste Theil von meinen genealogischen Versuchen ist. Ich habe freilich mit diesem Stamme am wenigsten von Allen mich beschäftigt. Übrigens glaube ich auch abgesehen davon, daß ein natürliches, d. h. genealogisches System gerade bei den Mollusken auf besondere Schwierigkeiten stößt.

Viel leichter wird es sein, bei den Wirbelthieren, Gliederthieren und Echinodermen, auch bei den Coelenteraten, wenigstens mit den Grundzügen in’s Klare zu kommen. Was die Echinodermen betrifft, so habe ich die über ihren Ursprung S. 417 aufgestellte Theorie neuerdings weiter verfolgt, und bin jetzt erst recht || von ihrer Richtigkeit überzeugt. Auch

Huxley und Gegenbaur habe ich dafür gewonnen. Ich werde sie jetzt ausführlicher bearbeiten.

Was Sie über die große Schwierigkeit bemerken, bei den genealogisch-systematischen Hypothesen zwischen analoger (durch Anpassung bedingter) und homologer (durch wahre Blutsverwandtschaft, resp. Vererbung bedingter) Ähnlichkeit zu unterscheiden, ist sehr richtig; ja es ist das eigentlich im concreten Fal1e immer die Hauptschwierigkeit und die

reichste Fehlerquelle. Ich glaube, daß die von Ihnen mehrfach hervorgehobene Verwandtschaft der Ganoiden und Crustaceen – und überhaupt der Wirbelthiere und Gliederthiere – nur Analogie, nicht Homologie ist.

Bei der ungemeinen Verwicklung und Schwierigkeit unserer hohen Aufgabe müssen wir uns nach Kräften gegenseitig unterstützen, und ich wünsche deßhalb von Herzen, daß Sie bald wieder Muße und Gelegenheit finden mögen, Ihre Thätigkeit zu Gunsten der speciellen Ausführung der Descendenz-Theorie weiter fortzusetzen. Auch werde ich Ihnen von Herzen

dankbar sein, wenn Sie mich auf die Ihnen bedenklichen und verkehrt erscheinenden Seiten meiner Anschauungen freimüthig aufmerksam machen wollen. Wird es doch noch sehr lange dauern, ehe wir einigermaßen zu festen und sicheren genealogischen Grundlagen des natürlichen Systems gelangen!

Mit wiederholtem Danke

Hochachtungsvoll

Ihr ergebenster

Haeckel

 

Letter metadata

Verfasser
Empfänger
Datierung
28.12.1868
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
Archiv der Senckenberg Gesellschaft für Naturforschung, Frankfurt a. Main
Signatur
NL Rolle
ID
40028