Daelen, Eduard Adolf

Eduard Daelen an Ernst Haeckel, Düsseldorf, 8. November 1916

Düsseldorf 8/11 16.

Sittardstr 5.

Herzlichsten Dank Ihnen, hochverehrter Meister, für das freundliche Gedenken, das Sie mir durch die erfreuliche Zusendung Ihres interessanten Werkes über Arnold Lang erwiesen haben. Noch besonders erfreut mich die darin enthaltene photographische Reproduktion Ihres Bildnisses, die mir ebenso wie die letzten Aufnahmen in Ihrem Garten bei meiner neuen Arbeit sehr zu statten kommt. Und heute erfreut mich schon wieder eine Zusendung von Ihnen, der Aufsatz „Monismus und Landeskirche“, in dem Sie so mannhaft für die Rechte unseres Bundes eintreten, womit Sie jedem Monisten auf’s Vollkommenste aus dem Herzen sprechen. Es ist bewundernswert mit welchem jugendlichen Feuer, mit welcher || geistigen Frische und Schneidigkeit Sie die besten Waffen für die Gedankenfreiheit zu führen verstehn. Möge der Himmel es fügen, daß Sie in Ihrer unverwüstlichen Tatkraft uns noch recht lange erhalten bleiben!

Darf ich Sie mit der bescheidenen Anfrage behelligen, ob ich auch noch den Artikel Ihrer Freundin über den Ausflug nach Burgau zu erwarten habe? Ich erlaube mir, Ihnen auch noch einige Drucksachen von mir, die Sie vielleicht interessiren, zu übersenden. Ich beabsichtige, Ihren Artikel „Monismus und Landeskirche“ am nächsten Vereinsabend unserer Ortsgruppe zur Verlesung zu bringen, wo er ohne Zweifel mit großer Begeisterung aufgenommen werden wird, da uns das || aktuelle Thema schon in der letzten Sitzung lebhaft beschäftigt hat. Überhaupt sind jetzt die Verhandlungen wieder recht a anregend. Unser Vorsitzender, Hr. Dr Maase, hält eine Reihe von Vorträgen über Müller-Lyers „Sinn des Lebens“. Da platzen die Geister heftig auf einander. Stehen sich doch in der Regel, wenn von dem Sinn und Ziel des Lebens die Rede ist, zwei mächtige Parteien gegenüber. Die Einen finden den Sinn des Lebens und das höchste Ziel seines Strebens in der fortschrittlichen Entwicklung der Kultur, ebenso entschieden wie sie von der anderen Seite bestritten wird. Von den unverbesserlichen Pessimisten wird die trostlose Lebensanschauung vertreten, daß das ganze Ergebniß der Kultur nur ein negatives sei. Sie stützen diese Ansicht mit einer ungeheuren Fülle der in der Welt vorhandenen Zustände grausigen Elends und himmelschreiender Ungerechtigkeit. Diese tatsächlich sehr mangelhaften Zustände seien heute eher noch schlimmer als sie jemals gewesen wären, wie es am kras-||sesten ja der gegenwärtige Weltkriegb vor Augen führe. Also liege der deutlichste Beweis klar zu Tage, daß die errungene Kultur der Menschheit nur unsägliches Unheil gebracht habe. Überall befänden sich die Naturmenschen offensichtlich in weit glücklicheren Verhältnissen als die Kulturmenschen.

Dagegen behaupten die Optimisten, daß diese Anschauung grundfalsch und nur das Ergebniß einer kurzsichtigen Beschränktheit sei, indem sie dies etwa folgendermaßen zu beweisen suchen. Der erste Grundfehler der pessimistischen Rechnung liegt in der Betonung der Zahl, der zweite in der Verwechslung von Unkultur und Geisteskultur und der dritte in der verwirrenden Unklarheit des Begriffs der Freiheit.

Zu dem ersten Punkt läßt sich nicht leugnen, daß die Überzahl des Unglücks in der Welt allerdings sehr in die Augen springend ist und daß dadurch die pessimistische Weltanschauung auf den ersten Blick als berechtigt erscheint. Wenn wir aber näher zuschauen, finden wir, daß die Über-||zahl eine Minderheit von weit höherem Wert gegenübersteht, die den scheinbaren Mangel an Glückszuständen mehr als ausgleicht. Und dieser Unterschied zu Gunsten des menschlichen Wohlbefindens beruht einzig und allein auf der Kulturentwicklung und vergrößert sich fortschreitend mit ihr. Dafür liegen die klarsten Beweise vor, wenn man das Leben und Wirken der Persönlichkeiten betrachtet, die als hervorragende Vertreter der heutigen Kulturhöhe gelten und als musterhafte Charaktere sich ein so ruhmvolles Ansehen erworben haben, daß sie nach arbeitssamen Schaffen sich in stiller Zufriedenheit des vollkommensten irdischen Glückes erfreuen können.

Es muß dabei nur auch der zweite Punkt aufs schärfste ins Auge gefaßt werden, daß die Kultur nicht hauptsächlich in den törichten Übertreibungen eines materiellen Wohllebens gesucht wird und dadurch zur verfluchtenc Unkultur ausartet, nein daß sie vielmehr als wahre Geisteskultur mit idealen Zielen aufgefaßt wird und daß sie nur dadurch einen dauernden Glückszustand gewährleistet.

Auf diesem Wege wird auch dann als drittes das Ergebniß in die Erscheinung treten, daß die || aufwärts strebende Kultur immer mehr die Fesseln der niederen Alltäglichkeit aufhebt und daß der höchst kultivirte Mensch auch der freieste ist, indem er als der geistig stärkste am klarsten erkennt, daß ein dauerndes Glück nur auf dem strengsten Sittengesetz der Wahrheit und Reinheit aufgebaut und daß dieses nicht im Äußeren gesucht werden kann, sondern als Richtschnur vor allem im Inneren unentwegt festgehalten werden muß. Wir Deutschen besitzen in dieser Beziehung eine Reihe von Vorbildern, wie kein Volk bessere aufzuweisen hat und die wir mit berechtigtem Stolz zu den verehrungswürdigsten Weltbürgern zählen können. Sie sind die berufenen Führer der Menschheit und geben uns sie unerschütterliche Zuversicht, daß Deutschland eine hohe Mission zu erfüllen hat und daß es sie zu einer befriedigenden Lösung bringen wird.

Vor allem drängt sich hier der Name eines Mannes auf die Lippen, der als der eigentliche Vollender und Verkünder der Entwicklungslehre angesehen zu werden verdient und der als solcher in der glänzenden Korona der Religionsstifter die || hervorragendste Stelle einnimmt. Hat er doch in der Tat die neue Weltanschauung der fortschreitenden Kulturentwicklung in der ganzen Natur durch die eingehendste wissenschaftliche Begründung, die sein außerordentlich erfolgreiches Lebenswerk darstellt, zu einer Religion erhoben, die geeignet ist, in einer Umwälzung sondergleichen der Welt für alle Zeiten das Heil einer Wahrheit, eines Lichtes zu bringen, das sie seit Jahrtausenden mit der glühendsten Leidenschaft geistigen Ringens ersehnte. Und den Segen dieser Lehre hat er durch seine vorbildliche Lebensführung auf das überzeugendste bewiesen. Das ist eine Tat, die dem Begründer der klaren Gestaltung einer monistischen Naturphilosophie trotz allerd der heftigen Anfeindungen und maßlosen Verläumdungen, denen er zeitlebens ausgesetzt war, in seinem Alter die dankbarste Anerkennung und Verehrung der Edelsten erringen mußte.

Seine begeisterten Jünger, deren er durch seinen lustvollen Unterricht ebenso wie durch umfassenden literarischen Werke eine unzählige Reife gewonnen hat, verkünden jetzt mit feurigen Zungen aller Welt die || Lehre, die sie, trotz allem Starrsinn der widerspänstigen, auf dem sonnigen Wege der fortschreitenden Kulturentwicklung zu dem sieg- und segensreichen Erzielen einer neuen und gesunden Lebensfreude, zu der Erlösung von allem Übel führen wird.

Was Müller-Lyer in seinem bedeutenden Evangelium „Der Sinn des Lebens“ zum Schluß als das vollendetste Ergebniß der Selbsterziehung einer zielbewußten Kulturentwicklung preist, der tadellos festgeschlossene Charakter einer wahrhaft großen und edlen Persönlichkeit, hier ist es in mustergültiger Weise uns vor Augen gestellt und glücklich preisen kann sich jeder, dem die intellektuellee Beanlagung [!] gegeben ist, es in seiner ganzen meisterhaften Schönheit zu erkennen, noch glücklicher aber derjenige, dem die Gunst eines gütigen Schicksals den freudigsten Vorzug schenkte, den unbeschreiblichen Zauber dieses deutschen Mannes in persönlichem Verkehr kennen zu lernen. Wer ihm ins Auge schaut, empfängt die innigste Überzeugung, daß der menschliche Geist zu einer Kulturstufe edler Vervollkommnung herangereift ist wie sie in der f || Vergangenheit noch nicht erreicht wurde.

Das große Wort der modernen Naturwissenschaft heißt Entwicklung und zwar in erster Linie Kulturentwicklung. In ihm beruht das Grundgesetz der ganzen Natur und ihrer unverwüstlich jugendlichen Auffassung, zugleich damit aber auch die radikalste Umwälzung der alten Anschauung, die in der unglaublich haltlosen Behauptung gipfelt, daß keine wesentliche organische Entwicklung des menschlichen Körpers mehr stattfinde, daß er vielmehr nach den eingehendsten Forschungen der Paleontologie einen unveränderlichen Dauertyp darstelle. Damit würde zugleich auch wohl jede Weiterentwicklung des Geistes geleugnet werden. Wenn aber diese Behauptung nur einen Schimmer von Berechtigung hätte, würde sie das ganze System der Entwicklung über den Haufen werfen. Denn wäre an einer Stelle seine Ausschaltung möglich, so wäre seine unerschütterliche Gültigkeit durchbrochen und damit seine Richtigkeit auf der ganzen Linie hinfällig. Die Behauptung stützt sich aber nur auf den alten || Radikalfehler geistiger Beschränktheit, welche nur die Forschung einer zu kurz bemessenen Zeitspanne in Betracht zieht und alle vorhergegangene Entwicklung als belanglos einfach außer Acht läßt. Auf Grund solcher mangelhaften Anschauung, die nicht eine stetige, sondern eine sprunghafte Entwicklung voraussetzt, muß man allerdings zu den falschesten Schlußfolgerungen gelangen.

Diese Tatsache liegt so klar zu Tage, daß es höchst erstaunlich ist, wie weitverbreitet noch heutzutage diese irrige Ansicht selbst in den sogenannten gebildeten Kreisen sich zu erkennen gibt und die heftigsten Kämpfe der hier besonders lebhaft aufeinander stoßenden Geister veranlaßt. Es ist eben das eigentlichste Feld des uralten und immer wieder neu auflebenden Kulturkampfes. Sein siegendes Feldgeschrei aber heißt: Fortschreitende Kulturentwicklung über Alles! ||

Auch in der Aussprache über das Müller Lyersche Werk trat dieser Gegensatz deutlich in die Erscheinung. Besonders interessant war es mir, daß in der letzten Sitzung auch Herbert Eulenberg auf die Seite der Optimisten trat und ihre Anschauung in fein humoristischer Weise verfocht. Sie können sich denken, daß auch Ihre [!] Name dabei häufig genannt und stellenweise als Zeuge beschworen wurde. Es wäre mir daher angenehm, Ihre Anschauung darüber, wenn ich auch glaube sie genügsam zu kennen, doch noch einmal ausdrücklich in ein paar Zeilen dargestellt zu sehen; ich würde Ihnen dafür sehr dankbar sein.

Auch muß ich Ihnen nochmals meinen innigsten Dank zum Ausdruck bringen für alle mir bei meinem letzten Aufenthalt in Jena erwiesenen liebenswürdigen Aufmerksamkeiten, und besonders für die || ungemein große Freude, die Sie mir durch die hohe Auszeichnung bereitet haben, daß Sie mit Ihrem lieben Sohne Walter sich gemeinsam mit mir im photographischen Bilde darstellen ließen. Das wird mir stets eine der schönsten von den reichen Erinnerungen der unvergeßlichen Jenaer Sommertage bleiben.

Mit viel herzlichen Grüßen, auch von Ihrer aufrichtigen Verehrerin Frau Emma Lührmann

Ihr

ergebenster

Eduard Daelen.

H: EHA Jena, Sign.: A 3985. – 3 Dbl., 14,85 x 18,95 cm, egh. Br., 12 S. beschr., Besitzstempel, Anstreichungen mit blauem Stift, nachträglicher Vermerk Haeckels am oberen Rand von Seite 1: „Monismus! | Entwickelung! | (E. Daelen).“

a gestr.: lebhaft; b eingef.: ja der gegenwärtige Weltkrieg; c irrtüml.: ververfluchten; d gestr.: trotz alle; eingef.: dem Begründer der … trotz aller; e eingef.: intellektuelle; f gestr.: Ver

 

Letter metadata

Empfänger
Datierung
08.11.1916
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
A 3985
ID
3985