Ernst Haeckel an Max Fürbringer, Jena, 29. Januar 1916

Jena 29. Januar 1916.

Mein lieber alter Freund Fürbringer!

Erfüllt von den herzlichsten Gefühlen treuer Freundschaft und warmer Dankbarkeit, sende ich Dir zu Deinem 70. Geburtstage morgen meine besten und aufrichtigsten Glückwünsche. Seit mehr als 50 Jahre verbinden mich mit Deiner Person – als treuer Schüler, hochgeschätzter College, Deutscher Patriot und liebevollster Naturfreund – die wertvollsten Erinnerungen („Das einzige Paradies, aus dem wir nicht vertrieben werden können“!). Welche glücklichen und frohen Jahre haben wir hier zusammen verlebt! Welche heiteren und anregenden Abende auf unserem lieben „Forst“ und „Schweizerhöhe“, im „Grünen Baum zur Nachtigall“ in Kospeda, in Böhmes Kneipe in Ammerbach. Und dann, welche stolzen „Bismarck-Tage“ in Kissingen und in Baden 1892 (Luther, Goethe!) – welche holländischen Festtage in Amsterdam (1890)! Wieviel haben wir uns gegenseitig geschenkt in unseren originellen „Referir-Abenden“, im Anatomischen und Zoologischen Institute. Und wie glücklich und fruchtbar waren die herrlichen Jahre ungestörter wissenschaftlicher Arbeit, in denen Du ( – als „höheres Wirbeltier“! – ) die Stammesgeschichte der Vögel, ich ( – als „Niederes Wirbelloses Tier“! – ) die Phylogenie der Radiolarien und Medusen erforschten! Dabei immer in wertvollster Berührung mit unser Beider Vorbild und Meister Carl Gegenbaur, dessen Nachfolger Du später selbst wurdest!

In dankbarster Erinnerung an diese und tausend andere glücklichen Erlebnisse bin ich heute gewiß, daß auch Du für diese schöne „Gute alte Zeit“ in Jena mit mir völlig gemeinsam fühlen wirst. ||

Wie Vieles hat sich seitdem um uns geändert, oft nicht zum Bessern. Wie viel Wasser (und Thränen!) sind seitdem die Saale und den Neckar hinabgeflossen; wieviel kostbares Blut in diesem entsetzlichen Weltkrieg erbarmungslos vergeudeta! Dir wie mir ist in diesem 20sten Jahrhundert viel Leid geschehen; die Zahl der hoffnungsvollen Jünglinge und der unersetzlichen Familienväter, die den Heldentod für unser Deutsches Vaterland gestorben, ist groß auch in dem weitern Kreise meiner nächsten Verwandten und Freunde, Kollegen und Schüler.

Dabei ist der Zukunfts-Himmel doch mit dichten Wolken bedeckt trotz aller herrlichen Siege unseres tapferen Heeres und trotz aller großen Opfer, die auch wir hier reichlich bringen.

Man kann nur ungewiß hoffen, daß die gänzliche Neuordung aller Dinge, die aus diesem Chaos der Zerstörung neu entstehen müssen auch den höheren Kultur-Zielen unseres Lebens zu gut kommen wird. – Mir persönlich geht es trotz meiner 82 Jahre leidlich gut. Ich lebe sehr still und zurückgezogen in meinem Medusen-Kasten, bin den ganzen Winter ( – der hier ungewöhnlich milde ist, der ganze Januar ohne Frost und Schnee; die Märzblumen blühen schon!) kaum aus dem Hause gekommen. Von unseren alten Kollegen sind nur noch Wenige hier, und diese selten zu sehen.

Mein kleines Hauswesen wird gut besorgt was meiner ältesten Enkelin, Else Meyer (21 Jahre); ein sehr liebes Mädchen, voller Interesse und Verständnis für Natur; sie schreibt (mit meiner Direktion) eine populäre Naturgeschichte der Radiolarien. –

– Hoffentlich feierst Du morgen Deinen Festtag mit Deiner lieben Frau und Deinen Kindern u. Enkeln in guter Gesundheit!

Mit besten Grüßen und Wünschen stets Dein alter

Ernst Haeckel.

a gestr.: geflossen, eingef.: vergeudet

Brief Metadaten

ID
39731
Gattung
Brief ohne Umschlag
Entstehungsort
Entstehungsland aktuell
Deutschland
Entstehungsland zeitgenössisch
Deutsches Reich
Datierung
29.01.1916
Sprache
Deutsch
Umfang Seiten
2
Umfang Blätter
1
Besitzende Institution
UB Frankfurt a.M., Archivzentrum, Nachlass Fürbringer
Signatur
A. 5a Nr. 09, Bl. 15
Zitiervorlage
Haeckel, Ernst an Fürbringer, Max; Jena; 29.01.1916; https://haeckel-briefwechsel-projekt.uni-jena.de/de/document/b_39731