Ernst Haeckel an Eduard von Hartmann, Jena, 8. Dezember 1874

Jena 8 Dez 74

Hochgeehrter Herr Doctor!

Für Ihren freundlichen Brief und die gütige Übersendung Ihrer Photographie danke ich Ihnen bestens. Die übersandten Artikel über die „Anfänge naturwissenschaftlicher Selbsterkenntniß“ habe ich mit großem Interesse gelesen. Ich erlaube mir dieselben noch einige Wochen hier zu behalten, weil ich in einer Note zur III. Aufl. der Anthropogenie, mit deren Verbesserung ich beschäftigt bin, darauf zurückkommen möchte. Ihre Beurtheilung von du Bois-Reymonds’ Rede hat mich besonders deshalb interessirt weil ich von einer anderen Seite her seine „doppelte Grenze des Erkennens“ nothwendig bekämpfen muß. Sie werden sich vielleicht gewundert haben, daß ich gerade du Bois dessen neurophysiologische und sonstige Verdienste ich sehr hoch schätze, – als Paradigma für die allgemein unter unseren Physiologen herrschende Unkenntnis und Unterschätzung der Entwickelungsgeschichte genannt habe. Mir schien aber gerade in jener Rede diese Schattenseite auf das Auffallendste bemerkbar. Das „Bewußtsein“ tritt plötzlich als ein neuer Deus ex machina auf, von der allmählichen Entwickelung desselben ist keine Rede. Höchst auffallend ist dieser Mangel an genetischem Verständniß auch da, wo er von dem nothwendigen Zusammenhang von Seele und Nervensubstanz spricht. Als ob nicht alle niedersten Thiere (Protozoen und ein Theil der Zoophyten) die noch gar keine Nervengewebe – sondern bloß indifferente Zellen besitzen, so gut „beseelt“ wären, wie die anderen. Es giebt gewiß kein gewichtigeres Zeugniß für die Einseitigkeit der heutigen Physiologie, als dieses Ignoriren der wichtigsten Entwickelungsverhältnisse! Nur daraus erklärt sich auch der ganze Mangel an Interesse für die Descendenz-Theorie, der mich von Anfang an bei den Physiologen auf das Höchste frappirt hat. Die Morphologie – auf welche die heutigen Physiologen mit so souveräner Verachtung herabsehen, weil sie nicht experimentell verfährt (und der Natur der Sache nach nicht verfahren kann!) – die Morphologie hat inzwischen durch Anwendung der Vererbungs- und Anpassungs-Lehren die colossalsten Fortschritte gemacht. Dieselben Morphologen, die noch vor 10 Jahren meine „Phylogenie“ perhorrescirten, dieselben wenden sie heute tagtäglich mit Erfolg an! –

Ihre Bemerkungen über die „sprungweise Entwickelung“ sind ganz richtig, aber Sie fassen das „Sprungweise“ ganz anders auf als die Naturforscher, die damit die Continuität des Geschehens leugnen und ein neues, unmotiviertes Entstehen der Form – ein Wunder neuer Art – einführen wollten, als Gegensatz gegen die natürliche Phylogenese. Übrigens spielen bei diesen scheinbar sprungweisen Genesen die Gesetze der abgekürzten und gefälschten Vererbung, sowie der homologen Anpassung der Zellen eine große Rolle! Doch darüber später gelegentlich mehr!

Mit wiederholtem Danke Ihr ergebenster

E. Haeckel

Brief Metadaten

ID
39553
Gattung
Brief ohne Umschlag
Entstehungsort
Entstehungsland aktuell
Deutschland
Entstehungsland zeitgenössisch
Deutsches Reich
Datierung
08.12.1874
Sprache
Deutsch
Besitzende Institution
Unbekannt
Zitiervorlage
Haeckel, Ernst an Hartmann, Eduard von; Jena; 08.12.1874; https://haeckel-briefwechsel-projekt.uni-jena.de/de/document/b_39553