Ernst Haeckel an Eduard von Hartmann, Jena, 4. November 1874

Jena 4 Novb 74

Hochgeehrter Herr!

Für Ihr freundliches Schreiben statte ich Ihnen zunächst meinen verbindlichen Dank ab, und knüpfe daran zugleich die Hoffnung, daß Sie das darin ausgesprochene wohlwollende Interesse für meine naturwissenschaftlichen Arbeiten mir fernerhin ebenso bewahren, wie ich Ihren philosophischen Werken stets mit lebhafter Spannung folgen werde, soweit ich überhaupt befähigt bin, Ihnen auf das spekulative Gebiet zu folgen. Für das werthvolle Geschenk, das Sie mir mit der V. Auflage der „Philosophie des Unbewußten“ gemacht haben, füge ich gleich meinen besten Dank hinzu. Meine individuelle Auffassung Ihres berühmten Werkes kennen Sie bereits aus der Vorrede zur IV. Aufl. der „Natürlichen Schöpfungsgeschichte“, die ich Ihnen zu übersenden mich beehrte. Ich stimme auch heute noch ganz überein mit dem anonymen Verfasser des „Unbewußten, vom Standpunkte der Physiologie etc.“ und bekenne offen, daß ich darin durch die Einwürfe, die Sie in der kürzlich übersendeten Nr. 43 der „Literatur“ erhoben haben, nicht irre gemacht worden bin. Ja ich schmeichle mir sogar mit der Hoffnung, daß es mir bei mündlicher Discussion gelingen dürfte, Sie wenigstens in einigen Beziehungen auf unsere Seite herüber zu ziehen. Sie werden natürlich das Gegentheil hoffen! Da wir aber Beide doch im Grunde das gleiche monistische Ziel verfolgen, werden wir uns hoffentlich demselben und damit zugleich dem gegenseitigen Verständnis von unseren verschiedenen Ausgangspunkten her immer mehr nähern. Ich meinestheils bin vollkommen zufrieden, wenn ich so ausgezeichnete und einflußreiche Schriftsteller, wie Sie sind, auf dem gemeinsamen Boden der Entwickelungslehre und speciell der Descendenz-Theorie weiß! Innerhalb dieses Gebietes sind ja wieder viele verschiedene Auffassungen möglich; viel wichtiger als deren Ausbau scheint es mir aber vor Allem jetzt, überhaupt der Entwickelungs-Idee Anerkennung zu verschaffen!

Welche Schwierigkeiten hier immer noch vorhanden sind, und welche Hindernisse ich dabei auf meinem speciellen zoologischen Fachgebiete immer noch täglich zu überwinden habe, welchen Widerstand namentlich noch alte empirische Autoritäten hier entgegensetzen, davon werden Sie glücklicherweise kaum eine Ahnung haben. Höchstens werden Sie vielleicht aus Herrn Bastian’s Geschreibsel entnommen haben, was in den herrschenden Kreisen der crassen Empiriker noch heute für „Wissenschaft“ gilt. Erklärt diese „Ethnologische Coryphäe“ doch geradezu, daß Philosophie überhaupt keine Wissenschaft sei! Und daß vor Allem die Naturwissenschaft sich vor jeglicher Berührung mit der Philosophie zu hüten habe.

Alle die Vorwürfe, die mir in dieser Weise noch täglich gemacht werden und die alle darauf hinaus laufen, daß sich der „echte Naturforscher überhaupt Nichts denken darf“, werde ich sicher demnächst in verstärktem Maaße wegen meiner „Anthropogenie“ zu hören bekommen. Da Sie die Güte haben wollen, dieses Buch in der „Deutschen Rundschau“ zu besprechen, möchte ich Sie bitten, gerade darauf den Schwerpunkt zu legen, daß darin überhaupt der erste Versuch gemacht ist, das todte ontogenetische Erfahrungs-Material durch den phylogenetischen Causal-Nexus zu beleben, und also überhaupt da nach den bewirkenden Ursachen zu suchen, wo bisher nur wunderbare Thatsachen zur „Gemüths- und Augen-Ergötzung“ der Beobachter dienten. Im einzelnen wird sicher vieles falsch sein. Daß aber die vorgeführte phylogenetische Formenreihe im Großen und Ganzen richtig, ist, davon bin ich fest überzeugt, und finde den besten Beweis darin, daß die phylogenetischen Entwickelungsreihen der verschiedenen Organe immer auf dieselbe Ahnen-Reihe zurückführen. Besonderes Interesse dürften für Sie in der Organogenie der 20., 21. und 24. Vortrag haben. Viel schwere Arbeit und viel Nachdenken steckt in den genetischen Tabellen, so einfach und leicht dieselben auch aussehen. Einzelne Ahnen-Stufen, besonders die einzellige (Amoeba), die zweiblättrige (Gastraea), die schädellose (Amphioxus), die Urfisch-Form (Selachier), die Reihe der Amphibien- und Säugethier-Ahnen halte ich jetzt schon für endgültig fixiert. Die gewünschten biographischen Notizen finden Sie in den beifolgenden Aufsätzen von Charles Martius und den illustrierten Zeitungen, die ich gelegentlich zurückerbitte. Was meine größeren Arbeiten betrifft, so wurde die erste derselben (die Monographie der Radiolarien, 1862) von Einigen meiner jetzigen Gegner seinerzeit als „classisch“ gerühmt (sie enthielt nämlich nur Massen neuen Materials; Ideen nur höchst schüchtern eingeflochten!). Ebenso fanden lebhaften Beifall unter den Fachgenossen die darauf folgenden Arbeiten über Medusen (64–69). Hingegen wurde die „Generelle Morphologie“ (1866) für „verrückt“ erklärt und bis auf den heutigen Tag fast völlig ignoriert. Und doch enthält sie die strenge wissenschaftliche Begründung aller der Ideen, die später in der populären „Natürlichen Schöpfungsgeschichte“ so rasche Verbreitung fanden; außerdem noch viel mehr! Von den „Kalkschwämmen“ (1872) hat der empirische Teil ebenso große Anerkennung, als der philosophische Anfeindung unter den speciellen Fachgenossen gefunden. Und doch scheint mir die „Philosophie der Kalkschwämme“, die ich Ihnen damals übersandte, nur die nothwendigen allgemeinen Resultate der höchst ausgedehnten und mühseligen Beobachtungsreihen zu enthalten. Das beste Neben-Product dieser Arbeit war die Gastraeatheorie, die ich im vorigen Jahre specieller ausführte. Obgleich gerade sie bis jetzt noch Gegenstand der lebhaftesten Controverse war, ist sie doch bereits von den urtheilsfähigsten Biologen acceptirt und als „einer der wichtigsten Fortschritte auf dem Gebiete der Entwicklungsgeschichte“ registrirt. Sehr viele Angriffe meiner werthen Fachgenossen sind übrigens einfach Folge des „Brodneides“! Besonders ärgert sie die Entdeckung der Moneren!

Mit ausgezeichneter Hochachtung

Ihr ergebenster

Ernst Haeckel

Brief Metadaten

ID
39550
Gattung
Brief ohne Umschlag
Entstehungsort
Entstehungsland aktuell
Deutschland
Entstehungsland zeitgenössisch
Deutsches Reich
Datierung
04.11.1874
Sprache
Deutsch
Besitzende Institution
Unbekannt
Zitiervorlage
Haeckel, Ernst an Hartmann, Eduard von; Jena; 04.11.1874; https://haeckel-briefwechsel-projekt.uni-jena.de/de/document/b_39550