Leonhard Schultze an Ernst Haeckel, Messina, 18. April 1900

Hochverehrter Herr Professor!

Heute kann ich Ihnen frohere Nachricht geben als das vorige Mal! Ich bin nun ganz wieder hergestellt und habe meine Arbeiten voll aufgenommen. Aus der Trinacria bin ich ausgezogen, habe mir in einer Seitenstraße der Via Garibaldi ein billiges möbliertes Zimmer gemiethet und esse in einer bescheideneren Trattoria, das bekommt mir und vor allem meinem Geldbeutel sehr gut. Im Laboratorium fand ich, wie zu erwarten, die freundschaftlichste Aufnahme; || in dem größeren Zimmer, in dem auch die Studenten arbeiten (und eine schwarzäugige Sizilianerin) habe ich einen geräumigen Tisch zu meiner Verfügung, Marco und Nicola bringen mir, wie sie es vor 3 Jahren für uns thaten, täglich frisches Plankton, und aus dem unerschöpflichen Reichtum dieser Fänge mir mein Material zu suchen ist mir jeden Morgen von neuem eine Herzensfreude.

Trochophora-Larven habe ich mit Kwietnievski bisher nur sehr spärlich gefunden; wie ich hörte ist auch von Zoologen die in Neapel arbeiten, des gleichen Material-Mangels || wegen, hier Nachfrage gehalten worden, vergebliche vorläufig, es scheint, daß der Wind und die fast täglich einfallenden Regenschauer die zarten Dinger in tiefere Regionen getrieben haben. Um so reichlicher sind neben den niemals fehlenden Heteropoden, Sagitten, Medusen, Krustern ect. die größeren Salpen vertreten, große Ketten z. T., heute sah ich eine, da enthielt jedes der 8 ctm großen Thiere (s. pinnata) einen fast ausgetragenen Embryo, dessen Organisation durch die glashelle Mutter hindurch bis in alle Einzelheiten mit bloßem Auge sichtbar war! Diese || Salpen haben mich vorläufig gefesselt. Ihr Blutkreislauf, dessen periodische Umkehr mich auch jetzt wieder in Erstaunen setzte, hat meine alte Liebe für Fragen der Herz-Tätigkeit, die ich in Engelmann’s Laboratorium näher kennen lernte, wach gerufen.

Gerade bei den Tunikaten, die in ihrer Circulation so auffallend zwischen der der Enteropneusten und Vertebraten vermittelt, hoffe ich, wird eine genauere Untersuchung der Herztätigkeit vergleichend-physiologische Resultate ergeben, die uns phylogenetisch denkenden Zoologen eine neue Handhabe für stammesgeschichtliche Betrachtungen ||| werden können. Je mehr ich mich mit dem Gegenstand beschäftige desto mehr wachsen mir zwar vorläufig Schwierigkeiten entgegen, aber mein Interesse an diesem Thema ist noch größer, und so hoffe ich, wenn auch langsam so doch stetig vorwärts zu kommen.

Noch habe ich außer dem Konsul Martens und seiner Ehehälfte (deren ›gambettini‹ machen der Sappho Ficalbi noch heute Vergnügen) und außer Weiss, meinem Arzt, keinen unserer nicht-zünftigen Bekannten gesehen.

Ausflüge plane ich auch erst für später, wenn das Wetter || beständiger und meine Arbeiten weiter fortgeschritten sind als jetzt. Wenn ich dann doch so sonnige und reiche Tage wie vor 3 Jahren hätte!

Auf Schritt und Tritt wurde ich an diese Zeit erinnert. Wie am Tage unserer Ankunft (Ihrem Geburtstage) stand nämlich wieder der Vollmond über der Straße und schimmerten die Lichter von Reggio und S. Giovanni von Kalabrien herüber; ich saß in einem der obersten Zimmer in der Trinacria wohl eine Stunde am Fenster und würde mich nicht gewundert haben, wenn Sie mir auf || die Schulter geklopft hätten.

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Die Zeit drängt, ich fürchte, meine Salpenherzen haben schon zu lange im Osmium gelegen. Deshalb lassen Sie mich schließen für heute.

Ich grüße Sie herzlichst, lieber Herr Professor, und bleibe stets

Ihr dankbar ergebener

L. Schultze.

Hoffentlich hat Ihre Frau Gemahlin ihre schwere Influenza ganz überstanden?

Messina den 18.4.1900.

Bitte Prof. Ziegler, Herrn Gross und Pohle freundlichst zu grüßen!b

a Nachschrift ("Bitte Prof. […] zu grüßen!") am linken Rand von S. 7

Brief Metadaten

ID
39263
Gattung
Brief ohne Umschlag
Entstehungsort
Entstehungsland aktuell
Italien
Entstehungsland zeitgenössisch
Italien
Datierung
18.04.1900
Sprache
Deutsch
Umfang Seiten
8
Umfang Blätter
4
Format
14,0 x 22,1 cm
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 39263
Zitiervorlage
Schultze, Leonhard an Haeckel, Ernst; Messina; 18.04.1900; https://haeckel-briefwechsel-projekt.uni-jena.de/de/document/b_39263