Leonhard Schultze an Ernst Haeckel, Neapel, 23. Dezember 1896

Hochverehrter Herr Professor!

Als ich mich vor 5 Wochen von Ihnen verabschiedete, sagten Sie daß es Ihnen Freude machen würde von mir aus Neapel zu hören, Erlauben Sie mir heute Ihnen einen kurzen WeihnachtsGruß aus meinem südlichen Winterquartier zu schicken! Ich bin diesmal – nicht wie im Sommer auf schönen Umwegen, sondern direkt auf mein Ziel losgegangen. Seit einem Monat wandre ich nun täglich || zum Aquarium hinunter und habe jetzt über die Existenzbedingungen eines Zoologen in Neapel meine ersten eigenen Erfahrungen gesammelt. Die Station in Bergen ist mir noch so lebhaft in der Erinnerung, daß ich sie unwillkürlich immer zum Maßstab der hiesigen Verhältnisse nehme. Mit dem eleganten Institut an der via nazionale kann sich freilich das einfache, norwegische Holzhaus nicht messen!

Aber was mir den Aufenthalt dort so angenehm machte, war der frische, natürliche Ton, der dort im zoologischen Kreise herrschte. Wir Jüngeren fühlten uns da alle als Lernende, und ich war sicher daß man für meine Anschauungen empfänglich war, wenn ich sie zu be-||gründen wußte! Hier aber bin ich schon mehrfach auf ganz unzugängliche, noch dazu prätensiöse [!] Einseitigkeit gestoßen, die die Freudigkeit des wissenschaftlichen Verkehrs sehr beeinträchtigt.

An einem Ort wo Zoologen aus aller Herren Länder zusammenkommen sind natürlich die verschiedensten Richtungen vertreten; ich bin – bisher leider nur vorübergehend – klar überzeugten Anhängern der v. J. 59 datirten Forschungsrichtung begegnet, habe den Indifferentismus, der es mit Niemanden verdirbt, kennen gelernt, und endlich auch jene fast humoristische Verständnislosigkeit, der die Descendenztheorie als „unbewiesene Hypothese“, die Phylogenie als Phantasterei erscheint ect. ect. ||

Es ist mir eine amüsante Unterhaltung, die Psychologie gerade dieses Standpunktes einmal in natura studiren zu können, zu sehen, mit welcher Beharrlichkeit diese Leute ihren Negativismus als „Kritik“ ausgeben, die kritische Überzeugung der anderen als „Dogmatismus“ mitleidig belächeln und sich dabei selbst so kannibalisch wohl fühlen in dem Glauben, eine neue Forschungsperiode zu inauguriren! Nun solche Beobachtungen ergänzen in schönster Weise meine im Norden gesammelte Erfahrungen, dort ist mir dieser Typus nicht über den Weg gelaufen.

Von den Herren an der Station sehen wir fremde Besucher regelmäßig nur Prof. Eisig und Lo Bianco, || die täglich ihren Rundgang an den Arbeitsplätzen machen und sich nach etwaigen Wünschen erkundigen. Wie es ursprünglich mein Plan war, habe ich mich zunächst mit Medusen beschäftigt. Die hier anfangs nicht seltene Golmoneta flavescens habe ich glücklich eine Zeit lang lebend erhalten, hatte auch Embryonen gezüchtet (die Metamorphose ist ja noch so wenig bekannt), als das Material plötzlich ausblieb. Inzwischen betrachte ich mir das mikroskopische Plancton, von dem ich täglich einen frischen Fang auf meinem Platz finde. Nebenbei studire ich auch eine im Aquarium sehr || gemeine Ascidia (Ciona intestinalis), die durch ihre starke Regenerationsfähigkeit besonders interessant ist. Doch hoffe ich auf mein erstes Thema bald zurückkommen zu können.

Mit der übrigen Zoologie erhält mich Ihre Systematische Phylogenie in Fühlung. Während der Universitätszeit kann man ja nicht jeder Gruppe ein gleichmäßig eingehendes Interesse widmen, es ist mir jetzt eine große Freude, meine fragmentarischen Kenntnisse vervollständigen und dabei zugleich unter allgemeine Gesichtspunkte || ordnen zu können. Meine paläontologischen Kenntnisse frische ich auch einmal von der geologischen Seite her auf, an der Hand von Credners schönem Lehrbuch.

Bisher ist der „Johannes Müller“ nur einmal ausgefahren, mir war die See zu bewegt, auch Vergnügungsexkursionen spare ich mir für bessere Tage auf. Es stürmt oder regnet fast täglich, über der ganzen Landschaft liegt ein schwüler Dunst u. Nebel, aus dem Capri und die Sorrentiner Halbinsel nur als graue Schatten auftauchen. – – – – ||

Zum Schluß wünsche ich Ihnen, hochverehrter Herr Professor, ein frohes Weihnachtsfest! Hoffentlich begeht es auch Ihre Frau Gemahlin in bestem Wohlsein.

Sollte Walter in Jena sein, darf ich Sie wohl bitten, ihn herzlich von mir zu grüßen!

Mit den besten Wünschen auch für das Jahr 1897 verbleibe ich

stets Ihr dankbar ergebener

L. Schultze.

Stazione zoologica

23.12.96.

Brief Metadaten

ID
39255
Gattung
Brief ohne Umschlag
Entstehungsort
Entstehungsland aktuell
Italien
Entstehungsland zeitgenössisch
Italien
Zielort
Zielland
Deutschland
Datierung
23.12.1896
Sprache
Deutsch
Umfang Seiten
8
Umfang Blätter
2
Format
13,4 x 21,0 cm
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 39255
Zitiervorlage
Schultze, Leonhard an Haeckel, Ernst; Neapel; 23.12.1896; https://haeckel-briefwechsel-projekt.uni-jena.de/de/document/b_39255