Haeckel, Ernst

Ernst Haeckel an Charlotte und Carl Gottlob Haeckel sowie Anna Sethe und Karl Haeckel, Messina, 16. Oktober 1859

Messina 16.10.59.

Abends.

Das erste heut Abend nach meiner glücklichen Zurückkunft hieher soll ein Gruß an Dich, bester Schatz, euch, liebste Eltern, Dich lieber Bruder und euch Liebe und Freunde,

Alle sein und herzlichen Dank für Eure 3 lieben Briefe, die mich bei meiner Ankunft freudigst überraschten, Annas vom 21.9 und vom 4.10. aus Bochum und Deinen, lieber Vater aus Teplitz, vom 29.8. den letzten, am 7.9. von Anna aus Bonn abgeschickten Brief erhielt ich noch glücklich am 13.9., ein paar Stunden vor meiner Abreise von Messina. Ihr könnt Euch denken, wie ich mich, nach fünfwöchentlichen Entbehren jeder Nachricht von euch, über diese Briefe gefreut habe, da ihr euch wohl eben so sehr nach Nachricht von mir gesehnt haben werdet.

Das nähere Eingehen auf eure lieben Zeilen, und die Beantwortung, im nächsten Brief. Heut nur einige Notizen über unsere nun glücklich vollendete Reise durch Sicilien, soweit es die große Müdigkeit heut Abend erlaubt. Morgen früh soll Allmers den a Brief gleich bis Civita vecchia mitnehmen, damit er rascher expedirt wird. Im Ganzen hat die Reise durch Sicilien, besonders durch das Innere, das wir uns viel wilder, schöner und romantischer dachten, nicht ganz unsere Erwartungen erfüllt. Die beiden Glanzpunkte sind Palermo und der Etna, nächstdem Syracus und Taormina, dagegen ist das Innere, und die Südküste, im Ganzen langweilig, sehr öde und traurig. Der einzige Umstand, daß auf der ganzen Insel eigentlich kein zusammenhängender Wald existirt, und daß wir allein in dem mittleren Ätnagürtel eine Andeutung eines Waldes fanden, wird euch schon viele Illusionen über den wildromatischen Character Siciliens zerstören, die wir auch hegten. Das Land ist durchaus bergig, aber mehr eine gleichförmige langweilige Hügelmasse, als eine Reihe charactervoller Bergzüge, mit Ausnahme natürlich des herrlichen Etna und der Umgebung Palermos. || Land und Volk, Stadt und Dorf, Menschen und Vieh, Flora und Fauna hatten wir uns in dem berühmten Sicilien ungleich fremdartiger und charactervoller vorgestellt und sind in dieser Beziehung sehr enttäuscht. Die glücklichen herrlichen Campanischen Inseln, Capri und Ischia, haben viel mehr Characteristisches aufzuweisen und sind eigentlich viel fremdartiger und südlicher, als das ganze Sicilien. Die Bauart der Häuser, der Character der Städte, die Tracht Sitte und Physiognomie der Bewohner, die Flora und Fauna, die Formen der Felsen und Gebirge, fanden wir in Capri und Ischia nicht nur charactervoller und fremdartiger, südlicher, sondern auch wirklich schöner und interessanter, als hier in Sicilien. Möglich allerdings, daß wir durch jene überaus herrlichen Inseln schon zu sehr verwöhnt sind, und daß die Masse des schon vorher gesehenen und genossenen Schönen und Großen fast zu überwältigend war, um jetzt von Sicilien einen ganz reinen Eindruck zu haben. Doch werdet ihr nach Anblick unserer verschiedenen Skizzenbücher euch wohl auch zu Gunsten der herrlichen Umgebung Neapels entscheiden.

Capri bleibt nun ein für alle mal mein italisches Paradies. Doch war immerhin diese 5wöchentliche Reise durch Sicilien höchst interessant und lehrreich und möchte ich sie keineswegs in meinen Reiseerinnerungen missen. Nur war das Interesse ein mehr historisches, antiquarisches und ethnographisches, als ein ästhetisches und naturwissenschaftliches und landschaftliches.

Das Volk im Ganzen hat uns viel besser als die Neapolitaner gefallen, welche allerdings auch den Abschaum der Menschheit vorstellen, wie man sich apriori nicht verdorbener und widerwärtiger denken kann. Doch steht auch der Sicilianer, obwohl viel besser, noch auf einer sehr niedern Stufe und beim Bekanntwerden mit diesem Volk hat sich mir mehr und mehr der Gedanke aufgedrängt, wie tief diese || unteritalische Menschenabart unter dem Vieh stehtb, besonders unter den Maulthieren, diesen aller Tugend vollen, edlen, treuen, klugen und geduldigen Thieren, die zum Lohn für ihre unermüdliche Ausdauer, für ihre vorsichtige Sorgfalt, für ihre treuen Dienste, – von diesem unbarmherzigen, gemüthlosen Menschenvieh in einer so empörenden, grausamen und niederträchtigen Weise mißhandelt wird, daß dieser Umstand allein – (falls man nämlich nicht den Maulthieren, wie allen andern Thieren, eine Fortdauer ihrer Seele nach dem Tode und eine Vergeltung ihrer Leiden durch eine jenseitige bessere Existenz zu gesteht) – den Glauben an eine gerechte Vorsehung wankend machen muß. Übrigens sind auch die Sicilianer, wenn sie gleich lange nicht so verworfen, so aller Tugend und Ehre baar, wie die gänzlich viehischen Neapolitaner sind, immerhin so elendes Pack, daß ein tief innerliches, deutsches Gemüth sich nie mit ihrem rein äußerlichen Dichten und Trachten versöhnen kann. Hat überhaupt diese ganze Reise durch Italien viele reine und edle Bestrebungen in uns angeregt und ausgebildet, so ist es vor allem die innige hohe Liebe zu unserem unvergleichlichen deutschen Vaterlande, die dadurch einen Schwung und eine Festigkeit, eine stolze Sicherheit und nationales Selbstbewußtsein erhalten hat, wie es im Vaterland selbst nie gekommen wäre. Auch hats allerorten der italische und sicilische Boden hören müssen, in der herrlichen Umgebung Neapels, wie in den gepriesenen Gefilden Palermos, in den Latomien von Syracus, wie auf dem Gipfel des Aetna:

– Deutschland, Deutschland über Alles, über Alles auf der Welt! –

– Ich bin ein Deutscher, will ein Deutscher sein! –

Freilich haben wir keine Lorbeeren und Myrthen, keine Palmen und Pinien, keine Opuntien und Agaven auf sonnenverbrannter Höhe, keinen ewig blauen Himmel, kein unsaglich dunkelblaues Meer. || Wir haben aber in unserm Deutschland den unersetzlich lieben und herrlichen grünen Wald und wir haben das frische schwellende Moos darin und die sprudelnden und rieselnden Quellen und die singenden und zwitschernden Vögel – und wir haben den unvergleichlich herrlichen Wechsel der Jahreszeiten, den lieblichen Frühling, den lustigen Sommer, den sinnigen Herbst und den gemüthlichen Winter, – was Alles dem traurigen Süden fehlt. Mir wäre dieses ewige Einerlei des beständigen Sommers, noch dazu eines so trocknen, dürren, durstigen, saft und kraftlosen, trotz all seines blendenden Sonenglanzes und Farbenschwalls, unerträglich. – Doch wohin verliere ich mich! Statt von Sicilien, schwärme ich von Deutschland! Freilich darf ichs heute wohl, da ich heut lieber, als je, dahin schnurstracks zurückkehrte.

Schließt doch heute der Cyclus der unendlich reichen und belehrenden anregenden und belebenden 4 Monate, die ich in der Gesellschaft des prächtigen Allmers zubrachte, und es beginnt der traurige einsame Winter mit der strengen nüchternen Arbeit des Naturforschers, die nach dem reichen phantasievollen Künstlerleben gewiß recht schlecht schmecken wird, besonders anfangs ehe die Maschine wieder recht in Gang ist. Wenn nur erst die nächsten 3–4 Wochen vorbei sind, vor denen ich mich ganz besonders fürchte. Der übrige Winter wird dann schon rasch genug vorüber gehen. Rückt mir ja doch dann der liebe Frühling mit der köstlichen Zeit des Wiedersehns immer näher. – Im nächsten Briefe hoffe ich auch zu hören, daß es Dir liebste Mutter, wieder wesentlich besser geht. Es hat mich sehr betrübt, c aus Vaters letztem Briefe zu hören, daß Du wieder einen dritten Krampfanfall gehabt hast. Hoffentlich war das der letzte und Du gehst nun fortdauernd Deiner Genesung entgegen. Jetzt werdet ihr Lieben euch nun wohl Alle in Berlin wieder zusammengefunden haben. Wie gern wäre ich nur ein paar Stunden in eurer Mitte! Herzlichsten Gruß von eurem Ernst. ||

[Beischrift an Anna Sethe]

Dir, liebster Schatz, muß ich nun doch wohl heut Abends noch einen besonderen Gruß beifügen, und einen besonders herzlichen Dank für Deine beiden lieben herzigen Briefe. Aus der Reihe der nächsten Briefe, in denen ich auch allmählich die sicilische 5wöchentliche Rundreise vorzuführen gedenke, wirst Du zuerst auch die nähere Schilderung des 14. Septembers erhalten, den ich diesmal recht einsam und sehnsüchtig verbrachte, obwohl der liebe Freund und die überaus herrliche Natur und Kunst Palermos, das wir an Deinem Geburtstag zum erstenmal betraten und genossen, wetteiferten, mir eine rechte Freude zu bereiten. Besonders war die nächtliche Dampfschifffahrt bei klarem Vollmond und stürmischwilder See ganz prächtig und so recht nach meinem Geschmack. Daß Du die Briefe und das Buch noch grade am 14.9. erhalten, freut mich sehr; Besonders auch, daß Dir Karl Allmers Marschenbuch geschenkt hat. Ich wollte es nämlich eigentlich Dir selbst noch zum Gregorovius schenken, unterließ es aber auf Allmers ausdrückliche Bitte, weil er mir selber später ein von ihm selbst corrigirtes Exemplar schicken wollte. Sein schurkischer Verleger, ein infamer Schuft der inzwischen Bankerott gemacht und mit seinem Honorar durchgegangen ist, hat sich nämlich heraus genommen, vieles ganz nach seinem Gefallen ganz zum Nachtheil des Buchs zu ändern, was Allmers erst nach dem Erscheinen bekannt wurde. Er hat überhaupt viel Ärger davon gehabt. Von der Kritik ist es aber trotzdem sehr günstig beurtheilt worden. Nun muß ich Dir aber auch noch eine kleine Schelmerei eingestehen, die ich gegen den guten Allmers begangen und ihm selbst nicht einmal gesagt habe, weil er gewiß sehr böse darüber geworden wäre. Das zweite, lange Caprigedicht „Komm, Liebchen, nach Capri, auf, eile geschwind!“ stammt nämlich nicht aus seiner, sondern aus meiner Feder, was Du eigentlich von Rechtswegen aus dem langweiligen, beschreibenden, halb didactischen Naturforscherton, den meine prosaische Feder nicht verläugnen konnte, hättest verrathen sollen. Als ich es ihm selbst mittheilte, meinte er, es klänge halb, als ob es ein Naturforscher, halb, || als ob es ein junges Mädchen geschrieben hätte, und ich beschloß aus einer Art Rachelust, es ihm selbst unterzuschieben, um zu sehen, ob Du Deinen Naturforscher daraus erkennen würdest (was Du eigentlich schon aus den halblahmen ungehobelten Versen hättest rathen müssen!). Übrigens wirst Du wohl auch manche Anklänge an die meisterhafte Schilderung Capris von Gregorovius darin wiedererkannt haben. Diese 4 Wochen werden doch wohl das beste Stück Italien bleiben und nur meine kleine Fee fehlte, um das Zaubermährchen vom Paradiese wahr zu machen.

Morgen verläßt mich nun der liebe prächtige Freund, der durch seinen reichen, so vielfach anregenden und belebenden Dichtergeist mir die letzten 4 Monate zu einer der schönsten Lebensperioden gemacht, und so vielfach bildend und veredelnd, mäßigend und bestimmend, auf die rohere, ungeformte Materie meiner Seele eingewirkt hat. Dieses letzte, noch bevorstehende Drittheil der Reise würde wohl das traurigste werden, wenn es nicht die Freude des baldigen Wiedersehns versüßen würde.

Vor der nächsten Zeit habe ich rechte Bange. Die spanischen Stiefeln, in die der logische Naturforschersinn eingeschnürt werden muß, werden nach dem bunten lebensvollen Phantasieweben der 4 glücklichen Künstlermonate recht schlecht schmecken. Indeß – consuetudo altera natura – In 4 Wochen wird mir auch wohl dies schwarze Roggenbrod an Stelle jener süßen Südfrüchte, wieder behagen.

– Grüß mir Deine Mutter und alle Lieben und Freunde recht herzlich, bester Schatz. Ich ärgere mich sehr, daß ich dem lieben Martens nicht noch schriftlich ein letztes Lebewohl vor seiner Japan-Expedition habe sagen können. Wie außerordentlich ich mich freue, daß grade er diese Glück geniesst, kannst Du Dir denken. Ihm gönne ich diese Freude vor allen andern. Hätte ich es nur früher gewußt, so hätte ich ihm noch ein paar Aufträge aufgegeben, besonders in Betreff pelagischer Fischerei. Sag Tante Bertha zum 20 Oktober noch nachträglich meinen herzlichsten Glückwunsch. Ich werde ihrer treu gedenken. Die Augen fallen mir zu liebster Schatz. Noch einen herzlichsten Kuß von Deinem treuen Erni.

[Adresse]

Herrn Oberregierungsrath Haeckel | Wilhelmsstr. 73. | Berlin | (Prusse). | via Marseille.

a gestr.: g; b korr. aus: besteht

 

Letter metadata

Verfasser
Datierung
16.10.1859
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
A 39201
ID
39201