Haeckel, Ernst

Ernst Haeckel an Anna Sethe, Sorrento, 26. Juli 1859

Sorrento 26. 7. 59.

Endlich, endlich an Deinem Namenstag – Am „Annatag“. – komme ich wieder dazu mein liebster Schatz, mit Dir zu plaudern; sei mir nicht bös, daß ich Dich so lang habe auf Antwort warten lassen; aber dies mal ging es halt nicht anders – erst kam ich nicht zum Schreiben und dann ging das Schiff nicht und also fehlte auch die Beförderungsgelegenheit. Morgen will mir nun ein Norweger diesen Brief mit nehmen.

Daß Du diesen Brief wieder nicht von Capri erhältst, wird Dich vielleicht wieder etwas wundern; aber unsere Rundtour hat länger gedauert als ich dachte und so gehe ich erst in den ersten Augusttagen dahin ab.

Den letzten Brief schickte ich am 16 aus der Santa Lucia ab. Am folgenden Tage wollten wir Neapel verlassen, aber heftiger Regen und Sturm (sehr erwünscht nach der langen Gluthitze) hielt uns bis zum 18. An diesem Tag fuhren wir Nachmittags 3 Uhr nach Portici, um den Vesuv noch vor Sonnenuntergang zu besteigen, und sowohl diesen, wie den Aufgang von Mond und Sonne [!] und das Glühen der Lava, vom Gipfel des Wunderbergs zu beobachten. Allein leider nahm die schreckliche Hitze meinen Freund Allmers so mit, daß wir erst bei einbrechender Dunkelheit am Fuß des eigentlichen Kegels anlangten und so mein ganzer Plan vereitelt und wir in eine ebenso gefährliche als unangenehme Lage versetzt wurden. Da ich nämlich den sehr beschwerlichen Weg über die Lava hinauf von der ersten Excursion her noch gut kannte, hatten wir keinen Führer genommen; der arme Allmers konnte sich aber, trotzdem ich sein Gepäck noch zu dem schweren meinigen auf die Schulter nahm, so schwer fortschleppen, daß es schon ganz dunkel war, ehe wir ein klein Stück an der Lava heraufgeklettert waren. Da bei Nacht alle Katzen grau und alle Lava und Asche schwarz ist, hatte ich bald das feste Lavafeld unter den Füßen verloren und wir mußten nun um in dem lockern Geröll der Lapilli und Asche, in dem große lockere Lavablöcke beständig herabstürzten so gut aufwärts klettern, als es eben gehen wollte. Dieses Stück, kaum ½ Stunde Wegs wozu ich aber trotz stärkster Anstrengung 2 volle Stunden brauchte, in absoluter Dunkelheit (da der Mond erst nach 10 Uhr aufging) ist die bei weitem beschwerlichste und auch wirklich gefährlichste Tour, die ich je gemacht. Mein einziger Trost war, daß ich an der Verzögerung, die uns in so schlimme Lage gebracht, unschuldig war. Eine nähere Schilderung sollt ihr später haben, heute nur so viel, daß || Gott sei Dank Alles noch gut genug ablief und wir mit blutig gerissenen Händen und Füßen und Verlust eines Theils des Gepäcks, (das nämlich in eine Lavakluft fiel, als ich einmal einige 30 Fuß mit allen Gepäckballen herabrollte), wir mit einem blauen Auge davon kamen. Als wahren Trost kann ich Dir und den lieben Alten aber hinzufügen, daß diese tolle Tour, gegen die alle früheren Touren, die großen Gletscherwanderungen, der Ersteigung des Watzmann, Epomeo etc reines Kinderspiel waren, mir alle Lust zu übermächtigen Abenteuern für immer benommen hat. Es sind wohl die letzte allein unternommene bedeutende Bergexcursion sein. Auch hat Allmers hoch und theuer geschworen, sich nie wieder meiner Führung dabei anzuvertrauen und läßt Dir unter herzlichen Grüßen besonders versichern, daß er dafür sorgen würde, daß ich nie wieder etwas ähnliches unternähme. Ich habe aber selbst allen Nisus zu abenteuerlichen Parforce-Touren vollständig eingebüßt und könnt ihr also für den weiteren Verlauf der Reise völlig beruhigt sein. Übrigens werden wir auch in Sicilien alle Touren mit Führer und Esel machen. Unsere nächtliche Vesuvexcursion war aber auch so toll, daß sie hier in Neapel kaum Glauben fand. Ich kam unter der größten Anstrengung, wobei mir der Schweiß stromweis am Leib herablief und von Zeit zu Zeit ein heftiger Kampf die Schenkel ganz contrahirte, dann auch etwa nach 10 Uhr oben auf dem Gipfel an, der arme Allmers erst um 2 Uhr. Den Rest der Nacht bewunderten wir theils das furchtbar wilde und großartige Naturschauspiel ringsumher, eine wahre Hölle, nichts als schwarzer Tod und glühende Lava, theils wärmten wir uns gegenseitig, in einen gemeinsamen Plaid gewickelt und vor einer Fumarole hockend. An Schlaf war auf den Messerscharfen Zackenspitzen der glasharten Lava nicht zu denken. Nach Tagesanbruch bewunderten wir noch ein paar Stunden die köstliche Rundsicht beim schönsten Wetter waren aber zu den beabsichtigten Aufnahmen viel zu elend und schleppten uns mühselig nach Neapel hinunter, wo wir erst am späten Nachmittag anlangten. Zu meiner größten Freude fand ich Deinen lieben herzigen Brief vom 10, für den Du hiermit einen herzigen Kuß haben sollst, mein bester Schatz. Den folgenden Tag waren wir begreiflicherweise zu Allem unfähig. Dann fuhren wir nach Pompeji, wo wir uns unter der guten Pflege des trefflichen Diomed und bei dem herrlichen Genuß des wunderbar schönen und reichen classischen Alterthums bald völlig erholten. Jetzt sind wir beide aber auch kräftiger und munterer als je zuvor. ||

Mittwoch 20. 7. Nachmittag fuhren wir auf der Eisenbahn nach Pompeji, und zwar, wie ich jetzt immer thue, IV Classe, eine in dem „gentilen“ Neapel von einem „forestiere“ unerhörte „Gemeinheit“. Es giebt hier nämlich eigentlich nur III Classen, von denen die II schlechter als unsere III, und die I noch nicht so gut, als die deutsche II ist. Die III Classe sind offene Wagen ohne Sitze, ganz gleich denen, in denen man bei uns Pferde und Schweine transportirt. Nun ist aber die famose Einrichtung, daß Leuten der ärmsten Klasse, Lazzaronis etc auch der Preis der III Classe noch ermäßigt wird, und zwar nur, wenn sie „Jacke und Mütze“ oder Schifferhut tragen, sogenannte „persone di giacca e coppola“. Wir „poveri pittori tedeschi“ machen nun unsere Excursionen jetzt in einem so vollkommenen Schiffercostüm – worin besonders ein (den antiken Mercurhüten in der Form ganz gleicher) Strohhut im Preise von 5 gran (20 Pfennige!!) characteristisch ist – daß selbst die steinherzigen Eisenbahnbilletteurs mit unserer Künstlerbörse Mitleid empfinden, und wenn wir III Classe verlangen, uns die noch viel billigere IV geben! – Da fahren wir denn im bunten Gemisch mit allen möglichen Leuten der niedersten Classen, besonders Bauern und Schiffern, und haben weit mehr Amusement, sehen mehr Interessantes und lernen Land und Leute viel besser kennen, als in den langweiligen Menageriekästen II Classe. Bei den vornehmen Neapolitanern, bei denen Gehen eine Sünde, und Glacéhandschuh und Cylinderhut unerläßliche Bedingung zum Leben für einen „uomo civile“ ist, haben wir dadurch natürlich allen Credit eingebüßt. Gott sei Dank! Doch ich vergesse über unserer famosen „giacca e coppola“ ganz unser liebes herrliches Pompeji, in dem wir in rechter reiner deutscher Künstlerlust 2 überaus genußreiche Tage verlebt haben. Vor dem Seethor Pompejis steht eine recht gemüthliche gute Künstlerkneipe, Hôtel de Dioméde, in deren Veranda und luftigem Oberstock wir uns recht nett eingelebt hatten; die Bedienung war so freundlich und die Bewirthung so gut und billig, als nur irgendwo in Italien. Das gilt aber auch nur für „Artiste“, für Maler und Architecten (als welche wir hier überall halb so a theuer und doppelt so gut als andere Menschen leben!). Für Engländer und andere Forestieri ist es hier so theuer, wie in den ersten Hôtels Neapels. Übrigens gerire ich mich auch so vollkommen als pittore, daß noch kein Italiener an meiner wahren Künstlernatur gezweifelt hat! ||

Allmers hatte mittelst mehrfacher dringender Empfehlungsbriefe sich beim Director der Kunstsammlungen etc die Erlaubniß ausgewirkt, allein, ohne die lästige Beaufsichtigung eines Führers, in Pompeji herumgehen und zeichnen zu dürfen. Dieses schätzbare „permesso“ haben wir denn auch redlich benutzt und sind vom Morgen bis zum Abend (mit nur 2 Stunden Mittagsunterbrechung) nach Herzenslust in der alten verzauberten Wunderstadt umhergestrichen, mit offenem frischen Sinn den herrlichen Geist des klassischen Alterthums in vollen Zügen einsaugend. Am Abend des 21. sahen wir beim Baden bei Torre S. Annunziata das prachtvollste Meerleuchten, wie ich bisher nie auch nur eine Ahnung davon gehabt. Am Abend des 22. 7. fuhren wir mit der Eisenbahn nach Nocera; am 23. gingen wir über den kleinen Mont Angelo, ein Joch der Penisola, nach Majure am Salernobusen herüber und von da am Strande nach Amalfi. Hier verlebten wir 2 glückliche Tage, überreich an den schönsten malerischen Eindrücken. Am 26. 7. fuhren wir mit der Barke nach Scaricatoja, von da zu Fuß über die Conti hieher nach Sorrent, wo wir in der „Künstlerkneipe“ der Rosa magra treffliche Aufnahme gefunden haben. Hier zeichnen wir noch 3 Tage. Dann gehe ich direct nach Neapel zurück, um 4 Wochen auf Capri tüchtig zu arbeiten. Hier haben wir sehr liebe Leute getroffen, 3 Norweger und 2 Norwegerinnen, mit denen wir heute einen sehr hübschen Tag verlebt haben, das ganze schöne Piano di Sorrento umwandernd. Heut Abend brachte mir Allmers von Neapel Deinen lieben lieben Brief vom 17. 7. mit. Hab 1000 Dank dafür Du bestes Herz und schreib mir recht bald wieder so lieb und ausführlich. Schreibt mir doch ja, ob der große durch Binz mitgegebene Brief nicht angekommen ist, in welchem auch der II Brief an Koelliker lag. Schickt den ersten (schon lange in Berlin liegenden) nicht ohne diesen zweiten ab. – Schreibt keine bedenklichen Politica mehr, da die Briefe jetzt regelmäßig auf der Post eröffnet werden. Lebt alle wohl ihr Lieben und seid so munter und frisch, wie euer Ernst. Dir Herzensschatz noch einen besondern Gruß und Kuß und ebenso den beiden Lieben Alten. Grüßt mir auch die Freienwalder und alle Freunde herzlich.

[Adresse]

vapore diritto Marsiglia | Herrn Regierungsrath Haeckel | p. Adr. Bertha Sethe | Hafenplatz N. 3, 1 Tr. | Berlin. | (Prusse). | via di mare.

a gestr.: billig

 

Letter metadata

Verfasser
Empfänger
Datierung
26.07.1859
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
A 39193
ID
39193