Ernst Haeckel an Charlotte und Carl Gottlob Haeckel, Neapel, 28./29. Mai 1859

Neapel 28. 5. 59

Heut war ich zum ersten mal in Pompeji, auf das ich mich schon lange gefreut hatte; schon mehrmals hatte ich mich mit anderen zu der Parthie verabredet; immer war mir eine hübsche Seebestie, eine Thetis oder ein großer Seestern dazwischen gekommen. Heute war endlich einmal ein freier Tag, ohne Material und so benutzte ich das schöne Wetter, um mit dem Wiener Kaufmann Lau nach dem classischen Ort zu fahren. Man fährt auf der Eisenbahn am Strand hin, über Portici, Torre del Greco, Torre dell’ Annunziata, dann in einem Halbkreis um den Fuß des Vesuv herum, an dessen Südostseite die alte Römerstadt ausgegraben ist. Da sie durch die ausgegrabene und rings aufgeschüttete Erde, sowie durch junge Baumpflanzungen verdeckt ist, so wird man sie erst gewahr, wenn man die Eisenbahn verlassen hat und in die uralten Straßen selbst hineintritt. Um so überraschender ist der fremdartige, mit der gewohnten modernen Umgebung natürlich nicht wenig contrastirende Habitus, der hier überall ausgeprägt dem Beschauer entgegentritt. Ich war durch die vielen Reste des römischen Alterthums, die ich bereits auf der Reise gesehen, durch die reichen Sammlungen von Florenz und Rom, durch das hiesige Museo Borbonico, sowie durch Lectuere etc schon ziemlich auf das, was ich hier nah sehen sollte, vorbereitet und doch wurde ich durch den Anblick des Ganzen in seiner vollen, so gut erhaltenen Wirklichkeit, durch 1000 neue interessante Einzelnheiten, vielfach überrascht und meine Anschauungen des Römischen Alterthums vielfach corrigirt und modificirt. Wie lebhaft habe ich da an euch Lieben alle gedacht und euch hergewünscht, um mit mir diesen Spaziergang 2 Jahrtausende rückwärts in der Menschengeschichte zu machen. Besonders hätte ich Dir, lieber Vater, diesen Genuß gegönnt und Dir gern den meinigen geopfert. Wie interessant es mir auch war, so hätte ich doch gern darauf verzichtet, wenn ich Dich statt meiner ein paar Stunden hätte herzaubern können, da ja Dein Interesse an dem Menschenleben, seiner Kulturgeschichte und Entwicklung, das meinige bei weitem übertrifft und Du gewiß viele interessante Punkte herausgefunden hättest, die den Naturforscher nicht weiter anzogen. Wir gewöhnen uns leider nur zu sehr daran, den Menschen al pari mit den übrigen Bestien zu betrachten, wozu man hier in Neapel allerdings besonders Gelegenheit hat, wo der größte Theil der Menschen nicht nur in moralischer, sondern auch in intellektueller Beziehung unter dem Vieh (wenigstens „unter dem Hund“!) steht. Auch sind die Reize der Natur hier zu mächtig, als daß man viel Lust behalten könnte, sich mit Menschengeschichte abzugeben. || Wie mächtig aber doch diese massenhaften wohl erhaltenen Reste des römischen Alterthums, dieses verkörperte Stück uralter Geschichte, selbst auf das weniger empfängliche Gemüth wirken, kannst Du daraus sehen, daß sie selbst mich, den unmenschlichen Naturforscher, so dauernd anzogen, daß ich vom Morgen bis zum Abend in den klassischen Ruinen umherwanderte und mich zuletzt nur ungern, und mit der Absicht, recht bald wieder zu kommen, davon trennte. Ich möchte Dir gern in kurzen Zügen eine Skizze des Ganzen geben, um Dich so wenigstens etwas mit in dieses, vor fast 2000 Jahren in fester Form erstarrte Leben zurückzuversetzen. Ich fürchte aber das [!] es mir wie mit Rom geht, wo auch der übergroße Reichthum an prächtigen Kunstdenkmalen und interessanten Alterthümern meine Fassungskraft so bemeisterten, daß ich lange Zeit brauchte, um mir nur selbst all des Großen und Herrlichen klar bewußt zu werden, und dabei gar nicht viel kam, euch ordentlich davon mitzutheilen. Fast ebenso überwältigend wirkt Pompeji, welches mein Interesse am klassischen Alterthum, das ich durch Rom schon völlig erschöpft und nach allen Richtungen befriedigt glaubte, doch noch einmal von neuem belebt und in einer neuen und interessanten Richtung gefördert hat. Gewissermaßen bildet Pompeji die Ergänzung, den Schlußstein zu allem andern bisher gesehenen; nirgends so wie hier, wird man in das altrömische Leben im Großen und Ganzen zurückversetzt. Noch viel mehr würde dies der Fall sein, wenn die alte Ruinenstadt in dem Zustand, in dem sie ausgegraben worden, gelassen wäre. Leider ist aber Alles Mobile daraus entfernt und man muß sich die Einzelheiten, die alle, zum Theil erstaunlich gut erhalten sind, im Museo Borbonico hier in verschiednen Abtheilungen zusammensuchen. Da finden sich denn nicht nur schöne und reiche Kunstdenkmäler in größter Anzahl, sondern auch alle Gegenstände und Erfordernisse des täglichen Lebens, wie sie eben grad an dem Tage, als im Jahre 79 der Vesuv die 3 Städte begrub, da vorhanden waren; also alle die verschiedenen Hausgeräthe, Kleider, Mobilien, Handelsartikel, ja sogar eine Menge Lebensmittel, Brod, Fleisch, Früchte etc in ganz deutlich kenntlichem, obwohl natürlich mumificirten Zustand. Außerordentlich groß [ist] natürlich die Zahl der verschiedensten Kunstsachen, Mosaik- und Freskogemälde, Gemmen, Kameen, Schmucksachen, Bronzen, Statuen etc am interessantesten aber fast die Gegenstände des täglichen Lebens, in deren Construktion und Ausführung bis ins kleinste Detail herab jener außerordentlich hohe, künstlerische Schönheitssinn sich a kundgiebt, demgegenüber unsere Jetztzeit als halb barbarisch erscheint. || Alles dieses, sowie alles bewegliche, ist also leider, wie gesagt, aus Pompeji entfernt; stünde es noch an Ort und Stelle, es müßte einen einzigen Anblick gewähren und mit wahrhaft mährchenartigem Zauber 1800 Jahre zurückversetzen. Thun doch schon allein die stehen gebliebenen immobilen Reste in ihrer kahlen Nacktheit die erstaunlichste Wirkung. Dieses, was man jetzt noch an Ort und Stelle sieht, ist also die Stadt im Ganzen, die Häuser und Straßen, übrigens noch kaum zum 4ten Theil ausgegraben (welche unbegreifliche Indolenz auch nur hier in Neapel möglich ist!). Ohne eine systematische Beschreibung zu versuchen, die euch doch kein anschauliches Bild geben würde, will ich nur das, was mir besonders auffiel, hervorheben. Am meisten überrascht im Allgemeinen der außerordentlich hohe Schönheitssinn, mit dem alle, auch die gewöhnlichsten und kleinsten Privathäuser ausgeschmückt sind, was sich einerseits in den Mosaiken der Fußböden etc, andrerseits in den Freskomalereien der Wände besonders zeigt. Was die letzteren betrifft, so haben sie mich sehr überrascht, da ich mir nicht im entferntesten einen so hohen Begriff von der Malerei der Alten gemacht hatte. Bei uns hört man so wenig davon und sieht noch weniger, in unseren Museen fast Nichts. Auch in Rom hatte ich nur wenig gesehen, darunter allerdings eins der schönsten, die Aldobrandinische Hochzeit, in der Bibliothek des Vatican. Hier dagegen finden sie sich zu Hunderten beisammen, und zwar alle in derselben, sehr gefälligen, leichten und graziösen Manier ausgeführt. Manche Skizzen sind wahrhaft genial, eine große Wirkung mit ein paar leichten Pinselstrichen erzielt. Die Farben sind alle sehr wohl erhalten und sprechen auch durch den warmen, dabei aber sanften und gleichmäßigen Ton sehr an. Die Gegenstände der Wandgemälde sind meist Geschichten aus ihrer herrlichen Mythologie, auch aus den alten Dichtungen und Historien, daneben auch b viele Darstellungen aus dem damaligen öffentlichen und privaten Leben, alle mit der naiven, unmittelbaren Naturwahrheit, dem vollen, warmen, unverschleierten Leben, das an dem Allen so mächtig anzieht. Dabei ist überall Maaß gehalten und nirgends tritt Überladung oder Disharmonie hervor. Entsprechend den Hauptgemälden, welche die Wände, Decken und Nischen schmücken, sind auch die zahlreichen Arabesken und Verzierungen, welche dazwischen und im Umkreise angebracht sind, durchgängig mit demselben edlen, einfachen und doch so reichen und mannichfaltigen Schönheitssinn ausgeführt; selbst in den kleinsten Arabesken und Zierathen überall ein leichter, gefälliger Schwung, eine ungezwungen natürliche Grazie, gegen die die steifen, plumpen Klecksereien unserer modernen Stubenmaler und Tapetenfabricanten einen recht jämmerlichen Abstich bilden. || Ebenso reizend sind die unvergänglichen Mosaikgemälde und die einfachen Mosaikarabesken, mit denen der Boden der Häuser geschmückt ist. Dieser ist meist, wie die verticalen Mauern, meist vollkommen wohlerhalten. Dagegen ist überall das Dach und Decke natürlich eingestürzt, so daß oben alle offen stehen. Nur an sehr wenigen ist auch das II. Stockwerk erhalten (dreistöckig waren fast gar keine). Das schönste von diesen ist das des Diomedes, wo man noch in all den zahlreichen kleinen Räumen der beiden Stockwerke umhersteigen kann. Dies liegt am äußersten Westende, in der berühmten Gräberstraße, die beiderseits mit den schönen viereckigen, thurmartigen Grabmonumenten (Columbarien) geschmückt ist, in denen die Asche der Todten in Krügen aufbewahrt wurde. Der Umfang der Häuser ist im Ganzen gering und noch kleiner sind verhältnißmäßig die einzelnen Zimmer, was sich aus der großen Anzahl derselben in jedem einzelnen Haus erklärt, da die Alten für jeden Zweck ein besonderes Zimmer hatten, zum Besuchempfangen, für Geschäftsangelegenheiten, für Essen, Trinken, Schlafen, für die Kinder, Frauen, das Gesinde etc. Dazu nimmt ein großer Theil des Hauses der Hofraum mit dem Regenbassin, oft von zierlichen Säulenhallen umkränzt, weg. Die Thüren und die mit dicken grünen grobenGlas geschlossenen Fenster sehr klein. Auch die Außenseite ist meist schön geschmückt, die Mauersteine mosaikartig gesetzt oder zierlich bemalt. Ebenso klein als die Häuser, so schmal sind durchschnittlich die Straßen und in dieser Beziehung sind die modernen Städte weit vorzuziehen. Mit Licht und Luft sind sie früher nicht verschwenderisch umgegangen. Sehr schön ist aber wieder der allgemeine Wasserreichthum, die Wasserleitungen, Brunnen und Bäder, die keinem Hause mangelten. Das Straßenpflaster ist sehr gut, wie auch im heutigen Italien (hier in Neapel ist das Pflaster gradezu das Beste, was es giebt); große, platte, polygonale Quadern, an den breiten Straßen auch Trottoirs, zum Theil aus Asphalt, oder mit Mosaik eingelegt. In der Mitte der Straßen tiefe Rinnen für die schmalen Wagengeleise. Vor den Thoren, die die breite, doppelte Mauer im Bogen durchbrechen Gasthäuser und Pferdeställe in Rundbogengängen. Von den Privathäusern ist großentheils ihre Bestimmung noch sicher nachzuweisen, zum Theil schon aus den daselbst gefundenen Geräthschaften und aus der ganzen Einrichtung. So sind die Bäckereien, Getreidemühlen, Barbierstuben, Materialläden, Apotheken, Kneipen etc noch deutlich kenntlich. In den Läden und Kneipen sind noch die colossalen thönernen Gefäße und die schönen rothen Krüge, die zur Aufbewahrung von Öl, Wein etc dienten, die Gestelle für die Flaschen etc wohl erhalten. || Nicht weniger interessant als die Privathäuser, sind die öffentlichen Gebäude und Plätze, obwohl deren Einrichtung und Bau auch schon aus andern alten Ruinen wohlbekannt ist. Doch ist ihre Vereinigung, ihr Verhältniß zum Ganzen, auch nirgends so schön, wie hier zu übersehen. Von den öffentlichen Plätzen ist das Forum civile derc größte und schönste, ein langes Rechteck, von einer Säulenhalle, mit Statuen zwischen den Säulen umgeben, rings um Magistratsgebäude, Magazine und Tempel. Durch ein Vestibül damit verbunden ist die fast 200' lange, 70' breite Basilica mit prächtigen Pilaster und Säulenreihen, entweder ein Tempel oder eine große öffentliche Gerichtshalle, am einen Ende noch unterirdische Grotten (Gefängnisse). Von den öffentlichen Gebäuden ist das wohlerhaltene Amphitheater das Größte, dessen ganze Einrichtung, die unterirdischen Behälter der Wilden Thiere, die Bogengänge für die Gladiatoren, die verschiedenen Rangstufen der Sitze ringsumher, man sehr hübsch übersieht. Die Stufenreihen sind zum Theil noch ganz erhalten, die untersten für die Leute ersten Ranges, dann mehrere Reihen für Kaufleute und Militär, dann für die übrigen Bürger, über diesen für den Plebs und zu allerbest ein Kreis von bedeckten Ranglogen. Rings öffnen sich über 100 verschiedene Ausgänge. Das Oval der Arena mit den Gallerien ringsumher sieht besonders von oben sehr hübsch aus, von wo man auch eine prächtige Rundsicht in die schöne Umgebung Pompejis hat; im Westen ganz nah der Vesuv mit seinen ungeheuren dunkelbraunen nackten Lavafeldern, südlich der reizende Golf, von Castellamare und Torre dell’ Annunziata bekränzt, vor denen das malerische Felseiland Novigliano mit Ruinentrümmern liegt, weiterhin die malerische Küste von Sorrent bis Cap Campanella hin und zuletzt Capri; im Osten und Norden die üppige, unserer „goldnen Aue“ vergleichbaren Campagna felice, mit reichen Gärten, Feldern und Dörfern, aus der schroff die zackige, steile, zum Theil bewaldete Gebirgskette des Mont’ Angelo sich erhebt, in deren Schluchten man tief hinein sieht. Auf dem oberen Randstück der höchsten Theatergallerie umherkletternd wurde ich noch durch den Fund von 2 prächtig duftenden und gemalten Orchideen (einer Orchis und einer Ophrys) erfreut. Von da gingen wir zu den beiden andern Theatern, dem tragischen und dem komischen, dicht neben einander gelegen, die ebenfalls mit ihrer ganzen Einrichtung, der sehr schmalen Scene mit dem stabilen Hintergrund, dem engen Orchester, dem weiten Halbrund für die Zuschauer mit den Halbkreissitzen und Logen verschiednen Ranges sehr wohl erhalten ist [!]. Zwischen beiden Theatern in einer Vertiefung liegt das Forum nundinarium, wo die Jahrmärkte gehalten wurden, ringsum eine schöne viereckige, bunt bemalte Säulenhalle. Jetzt ist inmitten des Forum ein hübscher, den alten hier stationirten Invaliden, gehöriger Orangengarten, wo wir selbst auf die Bäume kletterten und uns die Orangen herunter holten. Wir trafen hier drei andere Norddeutsche, einen Dr. phil. Ferdinand Schulz aus Berlin, Gutsbesitzer Einike aus Blekendorf und Buchhändler Flemming aus Schlesien, mit denen wir Nachmittag in das nahe || Hôtel Diomède gingen und bei einer Flasche köstlichen Falernerweins und nachher den unübertrefflichen Lacrymae Christi vom Vesuv, sehr vergnügt waren und der lieben fernen Heimath viel gedachten. Wo man hier nur Deutsche trifft, hört man dieselben Ansichten und Gefühle über das geliebte Vaterland aussprechen; alle sehnen sich herzlich danach zurück und eigentlich wohl und heimisch fühlt sich keiner hier, selbst nach jahrelangen Aufenthalt. Der Gegensatz gegen die Italiener ist aber auch in jeder Beziehung zu groß, und wo hier nur Deutsche zufällig sich zusammenfinden, werden sie schnell mit einander bekannt und repräsentiren dem Ausland gegenüber in geschlossener Phalanx eine Einheit, wie man sie leider im Vaterland selbst nur selten trifft. Der klassische Wein, mit dem wir natürlich auch auf das Wohl der fernen Lieben die Gläser klingen ließen, machte uns recht munter und bald hallten die einsamen todten Straßen der Gräberstadt, das Haus des tragischen Dichters, wo wir uns niederließen, vom Klang deutscher Volkslieder wieder. Gegen Abend gingen wir nochmals zu den verschiednen Tempeln, in denen man zum Theil auch noch neu ausgegrabene kleine Gegenstände, Hausgeräth, Penaten etc sieht und dann zu dem sehr hübschen Haus der Dioskuren, der Tänzerinnen, Vestalinnen und endlich zu den öffentlichen Bädern, die bekanntlich bei den Alten eine große Rolle spielten und mit großer Bequemlichkeit und Eleganz eingerichtet waren. Auch in den meisten größeren Häusern sind noch besondre Badezimmer vorhanden. Zum Schluß gingen wir nochmals in die Basilica und auf das Forum und fuhren schließlich um 7 Uhr Abends, nachdem wir 9 Stunden in dem klassischen Alterthum umhergewandert waren, mit der Eisenbahn nach Neapel zurück. Auf dem Rückweg hatten wir noch einige prächtige Blicke auf die Sorrenter Küste, welche die aus schwarzen Gewitterwolken vortretende Sonne mit einigen grellen Streiflichtern beleuchtete. Auf der andern Seite glühten die Laven des Vesuv ganz prächtig, das schönste natürliche Feuerwerk, besonders wenn sie einen Baum ergriffen hatten, der dann wie eine hohe Fackel hell aufloderte. Die Lava rückt ziemlich schnell weiter herunter und alle Abende habe ich vom Fenster meines Zimmers aus den prächtigen Anblick der rothen Gluth mitd den einzelnen reverberirenden gelben Feuerflammen, die e im dunkeln Meeresspiegel roth wiederscheint.

– Das Meer ist überhaupt jetzt prächtig, besonders durch den Schmuck der vielen Schiffe die jetzt im Golf liegen. Rings vor der Santa Lucia liegen im Halbkreis die sämmtlichen Linienschiffe der neapolitanischen Flotte, die nunmehr seit 9 (schreibe neun!!) Tagen alle Viertelstunden jedes einen Kanonenschuß thun, zur Ehre des vor 8 Tagen verstorbenen Königs, der morgen begraben wird (mehr noch wahrscheinlich, um die e Neapolitaner in Respect zu halten und einen etwaigen Aufstandsversuch im Voraus zu unterdrücken). Außerdem liegen 2 prächtige englische Kriegsschiffe da, der Centurion mit 84, der Terrible mit 24 Kanonen und eine wunderschöne 200' lange amerikanische Fregatte, Worbasch, mit 40 Kanonen. ||

Napoli, 29. 5. 59.

Liebe Eltern! Am 26 erhielt ich euren lieben am 20 abgeschickten Brief. Vor allem habe ich mich sehr gefreut, daß es Dir, liebste Mutter, wieder besser geht und Du Dich ordentlich erholst. Nimm Dich nur recht noch in Acht und krame nicht zu viel im Haus herum, besonders bei der Wäsche. Mit welcher Theilnahme ich die Nachrichten über A. v. Humboldts Tod und Begräbniß gelesen, könnt ihr denken. Doch hatte er in glücklichster Thätigkeit sein volles Leben ausgelebt und die ewige Ruhe wohl verdient. Deßhalb ist der Verlust nicht entfernt so groß, wie vorm Jahre der von Johannes Müller, der sich wohl mit Humboldt messen konnte, ja ihn in Vielem überflügelte, wenn auch seine Thätigkeit auf beschränkterm Felde sich hielt. Dieser wurde in der Blüthe der Mannesg Jahre aus der vollen Thätigkeit gewaltsam herausgerissen und sein Verlust für die Wissenschaft, wie für seine nah stehenden Schüler ist gleich unersetzlich. Ich freue mich bei allem, was ich hier finde, immer nur halb so, als wenn ich wüßte, daß ich es J. Müller mittheilen könnte; und auch seine Stütze entbehre ich gar sehr. || Meine ganze Entwicklung ist durch den frühzeitigen Tod J. Müllers gehemmt und wesentlich zurückgeblieben, da er grade in den Moment fiel, wo ich mit ihm erst recht vertraut geworden war und von dem häufigen Verkehr mit ihm den größten Nutzen hätte haben können. Auch für mein weitres Fortkommen würde ich an ihm eine Stütze gehabt haben. Und wie mir, so fehlt er vielen andern seiner Schüler. Die unerbittliche Parce war zu grausam, ihm mitten im vollen Lauf den Lebensfaden abzuschneiden. Humboldt dagegen hat ausgelebt und h den Kreis seiner Thätigkeit vollkommen durchlaufen. Den II. Band von Humboldts Kosmos hat Anna. Wahrscheinlich steht er in Berlin unter ihren Büchern. Sobald ihr was von Mobilmachung hört, schreibt gleich. Ich werde dann schleunigst direct über Marseille zurück zu kommen suchen. Schlimmstenfalls würde ich mit einem englischen Schiff über London entkommen können.

Der Landweg ist jetzt schon ganz abgeschnitten und ebenso der Seeweg über Triest. Grüßt alle Freunde herzlichst und schreibt bald wieder eurem E.

N. B. Ich habe mir heute vom hiesigen Banquier, Klentz, Stolte, Wolff 300 (dreihundert) Francs auszahlen lassen,i da die 600 francs, die ich aus Livorno aufgenommen, rein alle geworden waren.j ||

Liebe Eltern!

Die inliegenden Briefe an Martens und Karl, die ich bald zu befördern bitte, lassen mir diesmal nur wenig Raum. Sehr leid thut es mir, daß Du, liebste Mutter, noch immer nicht ganz wieder hergestellt bist. Schone Dich nur recht und krame nicht so viel in der Wirthschaft herum; Ottilie kann Dir ja viele Arbeit abnehmen. Besonders nimm Dich aber bei der Wäsche in Acht, wo Du ja immer die Leidenschaft hast Dich zu erkälten. Dich, lieber Vater, bitte ich, mir im nächsten Brief einmal etwas über unsere Stellung zu Östreich zu schreiben. Hier erfährt man so gut wie nichts davon, da die Augsburger Allgemeine hier allgemein gelesen wird und alle Deutschen ziemlich inquirirt. || Ich kann nicht sagen, daß ich diese Schwärmerei theile und sehe nicht ein, wie Preußen durch Theilnahme am Krieg gewinnen soll. – Wegen Kriegsgefahr für mich hier braucht ihr euch gar nicht zu ängstigenk. Das sieht sich aus der Ferne immer viel schlimmer an, als es wirklich ist. Die Deutschen sind hier allerdings schlecht angeschrieben, wie die Schweizer, sie wagen aber doch nichts gegen sie zu unternehmen. Ich habe mich diese Woche wenigstens äußerlich italianisirt, indem ich mir meine Mähne, die bis auf die Schultern herabgewachsen war, ganz kahl habe abschneiden lassen. Seitdem hat das Tedesco-Rufen auf den Straßen wenigstens aufgehört. Schreibt mir nur recht bald wieder. Herzliche Grüße an alle Lieben.

Euer treuer Ernst.

[an Karl Haeckel]

Lieber Karl!

Du wirst inzwischen meine directe Antwort auf Deine beiden Briefe erhalten haben. Daß ich bis da noch nicht direct geantwortet hatte, liegt mehr in dem beschränkten Raum der Briefe, als in dem guten Willen. Du darfst mir also nicht bös sein, daß ich Dich etwas habe warten lassen. Ist doch immer der größere Theil aller Briefe für die ganze Familie bestimmt; und den wenigen Raum, der außerdem bleibt, darf wohl der Schatz mit Recht beanspruchen. ||

Ich werde nun wohl noch 2–3 Wochen hier bleiben und mir dabei die bisher vernachlässigten Sehenswürdigkeiten Neapels und die nähere Umgebung ansehen, von der ich bisher wenig genossen habe. Dann denke ich auf 2 Monat nach Capri oder Ischia zu gehen. Eine ungemüthliche Spannung erhält jetzt das ganze Leben hier durch das fortwährende Gefaßtsein auf eine Mobilmachung; übrigens ist die Lust, sich für Östreich zu schlagen, gerade nicht sehr groß. – Grüß Mimmi und die Kinder herzlichst von Deinem

Ernst

a gestr.: kunst; b gestr.: auf; c korr. aus: das; d gestr.: und; eingef.: mit; e gestr.: sich; f gestr.: Respect; g eingef.: Mannes; h gestr.: sei; i Text weiter am oberen Rand v. S. 7: N. B. Ich … auszahlen lassen,; j Text weiter am linken Rand v. S. 8: da die … geworden waren.; k korr. aus: ängstigsten

Brief Metadaten

ID
39189
Gattung
Brief ohne Umschlag
Entstehungsort
Entstehungsland aktuell
Italien
Datierung
29.05.1859
Sprache
Deutsch
Umfang Seiten
8
Umfang Blätter
4
Format
14,1 x 22,2 cm; 14,0 x 8,2 cm; 11,0 x 7,0 cm; 8,3 x 7,0 cm
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 39189
Zitiervorlage
Haeckel, Ernst an Haeckel, Carl Gottlob; Haeckel Charlotte; Neapel; 29.05.1859; https://haeckel-briefwechsel-projekt.uni-jena.de/de/document/b_39189