Haeckel, Ernst

Ernst Haeckel an Anna Sethe, Neapel, 9. Mai 1859, mit Beilage Capri-Exkursion 30. April – 2. Mai 1859

Neapel, 9. 5. 59.

Die vorliegenden beiden Blätter können Dir nur ein schwaches Bild von dem reizenden, wonnevollen Naturgenuß geben, mein liebster Schatz, den die beiden ersten Maitage mir gebracht haben. Nur Du fehltest mir überall, um mich auf den höchsten Gipfel der Naturfreude zu erheben. Diese Capri-excursion und die herrliche Vesuv-Parthie, von der Dir mein letzter Brief gemeldet haben wird, sind wahre Edelsteine in dem sonst so trostlosen Neapolitanischen Aufenthalt, und diese in ihrer Art wirklich einzigen Naturgenüsse müssen, wie auch die Excursionen nach Bajae, Castellamare, den Posilip, Camaldoli etc, für all das unleidliche Ungemach des Neapolitanischen Lebens entschädigen. Mit dem schönen Wetter hatte ich es bei diesen Excursionen recht abgepaßt; am 3 Mai trat leider schon wieder Regenwetter ein, welches seitdem beständig angehalten hat, so daß natürlich auch mein Gemüths-barometer wieder bedeutend gefallen ist. Ich hatte mir zu unserm größten Festtage am 3. 5. recht herrliches Wetter bestellt, um ihn auf Camaldoli oder sonstwo in der herrlichen Wundernatur zu feiern. Allein der Himmel trauerte ebenfalls über unsre Trennung und hatte sein Gesicht mit dunkeln Regenwolken verhängt. Dann wollte ich unsern Verlobungstag durch den Genuß der reichen Kunstschätze des Museo Borbonico feiern, die ich noch nicht gesehen hatte; doch auch daraus wurde nichts, da das Einlegen der Masse prächtiger Pflanzen, die ich von Capri mitgebracht, und die Untersuchung eines interessanten Cirrhipeds (Anatifa stricta) das ich in der blauen Grotte schwimmend gefangen hatte) den ganzen Tag absorbirten. Dafür wurde mir denn aber am Abend die größte Freude durch Deinen lieben, lieben Brief vom 2ten, den ich grade am 3 Abends erhielt und mit dem und Deinem lieben süßen Bild zusammen ich bis spät in die Nacht am offenen Fenster auf dem Balkon saß und wehmüthig sehnsuchtsvoll den wilden Wolken nachsah, die an dem rauchenden Vulcan vorbei, aus dem heißen Africa kommend, nach dem geliebten Norden zogen. Dann sah ich wieder auf die glühenden Lavaströme hin und vertiefte mich ganz in das liebe grüne Zimmerchen Hafenplatz N. 4 wo mein besseres Theil jetzt wohl in die kleineren wohlbekannten Feuer schauen würde. Was hätte ich darum gegeben, um auch nur ein Stündchen bei meinem besten Schatzchen sein zu können! Aber vergebens träumte ich; kein Vogel wollte mir seine Flügel leihen und ich mußte mich auf die besseren Jahre vertrösten, wo ich diese Tage süßester Erinnerung im köstlichsten Verein mit der Geliebten feiern würde. Du kannst denken, liebster Schatz, wie ich in dieser wichtigsten ersten Maiwoche jeden Tag und jede Stunde mir treu und lieb mit ihren kleinen und großen Erinnerungen wieder ins Gedächtniß gerufen habe und wie ich, trotz des wehmüthigen Gefühls, grade diese Tage weit entfernt von Dir zubringen zu müssen, doch in glücklichster Freude über den sichern Besitz der liebsten köstlichsten Seele innerlich gejubelt und frohlockt habe. ||

Wird uns leider auch die lange Trennung sehr schwer, liebstes Herz, so fühle ich doch täglich mehr, wie heilsam sie für uns beide ist. Je ruhiger die Wogen der wilden Leidenschaft werden, desto klarer und fester schaut Dein liebes, reines, süßes Bild mir aus ihrem dunkeln Spiegel entgegen, desto inniger und unauflöslicher fühle ich mich mit Dir verbunden, desto klarer werde ich auch über mich selbst, wenigstens darüber, daß mein ganzes Herz mit allen seinen schlechten und guten Seiten Dir ganz und gar allein angehört. Bestimmter und fester formt sich nun täglich bei mir das Bild unsrer glücklichen Zukunft und energischer und consequenter bemühe ich mich täglich auf baldige Erreichung dieses seligsten Ziels hinzuarbeiten. Leider entspricht freilich in dieser Beziehung, wenigstens bis jetzt, der Erfolg den Erwartungen nicht; das Bewußtsein, die bisher in Neapel zugebrachten 6 Wochen (abgerechnet etwa 8 Excursionstage) nach Möglichkeit zu fleißiger Arbeit benutzt zu haben, kann mich nicht über den schlechten Erfolg dieses vergeblichen Bemühens trösten und bald fange ich an daran zu zweifeln, daß überhaupt Etwas Bedeutendes aus allen meinen Anstrengungen hervorgehen wird. Das Wenige was ich bisher gefunden, steht nicht im Verhältniß zu der angewandten Kraft und Zeit und was das Schlimmste ist, ich verliere dadurch ganz den Muth, den Arbeitsplan in dem unternommenen Umfang auszuführen. Bin ich auch in der Kenntniß des Allgemeinen so weit Herr des Feldes, um mich in der unendlich reichen marinen Lebenswelt so ziemlich selbstständig orientiren zu können, so fehlt mir doch ganz das rechte Geschick, um die vorhandenen zahlreichen Lücken der Wissenschaft richtig zu erkennen und auszufüllen. Versuche ich, am Detail angreifend, in das Einzelstudium mich zu vertiefen, der einzige Weg, auf dem jetzt etwas Tüchtiges zu leisten ist, so tritt der überwältigende Reichthum des Materials, die wunderbar schöne und schwierige Complication der Form und andrerseits die unverhältnißmäßige Mangelhaftigkeit meiner Hilfsmittel, am meisten aber meines Geistes, mir lähmend und entmuthigend entgegen: „Mich plagen so viele Skrupel und Zweifel, zwar fürchte ich mich weder vor Hölle noch Teufel, doch ist mir dafür alle Freud entrissen, bild mir nicht ein, was Rechts zu wissen, bild mir nicht ein ich könnt was lehren, die Menschen zu bessern und zu bekehren!“ − Diese und andere Faust-Gedanken verfolgen mich bei meiner Arbeit den ganzen Tag und lerne ich dabei immer mehr die unübertreffliche Wahrheit bewundern, mit der unser größter Dichter in diesem herrlichsten Drama das stete unbefriedigte Streben des lebendigen Menschengeistes, in specie des Naturforschers unserer Tage, gemalt hat, so ist doch dies Vertiefen in diese Gedanken nichts weniger als ermuthigend. ||

Wohin bin ich gerathen, mein liebster Schatz! Ich sollte Dir von meinem Maienglück und meinen Liebesgedanken, die die Sehnsucht nach der fernen, süßen Braut in dieser Woche so besonders lebhaft wach riefen, erzählen und betrübe Dich statt dessen durch Mittheilung der Faustischen Zwiespaltsideen und Weltschmerzempfindungen, über die ich mich doch nie werde hinwegsetzen können. Aber da hast Du Deinen dummen bösen Erni eben ganz wieder so wie er ist mit seiner rückhaltlosen Offenheit, mit der er Dir nichts verbergen kann und auch alle seine dummen Selbstquälereien Dir noch aufbürden muß. Bessere ihn, liebstes Herz, behalt ihn aber nichtsdestomehr so lieb wie bisher. ||

Heut ist der Raum zu beschränkt, um Karl für seinen lieben Brief selbst zu danken; ich werde ihm im nächsten antworten. Grüße ihn und Mimmi, sowie die Kinder, inzwischen bestens. Ängstige Dich nicht, liebster Schatz, wenn die Briefe jetzt unregelmäßiger, als bisher, kommen, da die französischen Dampfer jetzt öfter Fahrten aussetzen werden. − Mein letzter Brief war nach Hafenplatz 4 adressirt. Er wird Dich nicht mehr getroffen haben. Schicke diesen sogleich an die Alten. Abzuschreiben brauchst Du aber keine mehr.

N. B. Wenn die Briefe an Berncastel adressirt sind, braucht der Name des Absenders nicht mehr auf die Adresse geschrieben zu werden.

[Beilage Capri-Exkursion]

Die höchst gelungene Vesuvexcursion vom 28. 4. und das auch die folgenden Tage fortdauernde, nach dem langen Scirocco-Sturm doppelt erquickende prächtige Frühlingswetter hatten meine Wanderlust so geweckt, daß ich der Versuchung nicht widerstehen konnte, schon am zweitnächsten Tage an einer Excursion nach Capri Theil zu nehmen, zu der mich mehrere Landsleute aufforderten. Es war schon längst mein Wunsch, das herrliche Felseneiland, das mit seinen unverdorbenen Formen in duftiges Blau getaucht mir beständig in die Augen stach, näher kennen zu lernen und daher diese Gelegenheit um so angenehmer. Wir machten die Überfahrt, statt auf dem doppelt so theuren und halb so angenehmen kleinen Dampfschiff, das allwöchentlich nach Capri fährt, in der Barke der Fischer, die täglich die Fische zum Markt hereinbringen und dann leer zurückfahren. Samstag 30. 4. Mittag 1 Uhr legte dies kleine leichte Fahrzeug am Hafen von Santa Lucia an und nahm unsere Gesellschaft, 5 an der Zahl auf, außer Herrn v. Both, den beständigen maitre de plaisir und auch dem Leitfanden dieser Excursion, und außer mir noch 3 junge Kaufleute: ein Berliner (echte blasirte berliner Pflanze), ein Stuttgarter (oberflächlicher leichter Bursch) und ein Wiener (ebenfalls ohne besondern Inhalt), alle 3 ziemlich lockere, lascive Vögel, die unserem deutschen Namen im Ausland grade nicht viel Ehre machen und nach Grundsätzen handeln, denen gegenübera ich mich nicht enthalten konnte, etwas derb ihnen die Wahrheit zu sagen. Die Gesellschaft hätte also schon besser sein können; doch ist es ganz gut, einmal einen Blick in diese hohle, jämmerliche Lebensauffassung zu thun und zu sehen „wie leicht sich’s lebt und leben läßt“. Der ernste Wille, nach grade entgegengesetzten Principien zu handeln, wird dadurch immer um so mehr gestählt und befestigt. Meine 4 Gefährten setzten sich auf die leeren [im] Hintertheil der Barke angebrachten 2 Bänke; ich suchte mir nur immer den höchsten, in meinen Augen besten, Platz aus und setzte mich neben das Steuerruder auf den hintersten, freien Vorsprung, von wo ich nach allen Seiten den herrlichsten freisten Umblick hatte. Den Vordertheil der Barke nahmen die 4 Ruderer ein, junge feste Capresen, ein hübsches liebenswürdiges, munteres Völkchen, das noch wenig Spuren der neapolitanischen Corruption zeigt. Namentlich konnte der junge, muntere Pasqualetto als Typus eines frischen, natürlich guten Insulaners gelten. Ganz vorn endlich lag, die meiste Zeit über schlafend, der alte Steuermann, ein für einen Italiener auffallend stiller und phlegmatischer alter Seefahrer, der die ganze Fahrt über kein Wort von sich gab. || Die Überfahrt von Neapel nach Capri war ganz herrlich und so recht nach meinem Geschmack. Der Wind, der sich bald nach unserer Abfahrt erhob, blies stark aus West Süd West, war also mezzo contrario und genug um zunächst den Kurs nach Sorrent zu nehmen, um dann von dort aus nach der Insel hinüber zu steuern. Doch war er bald so stark, daß wir das Laviren aufgeben, die Segel einziehen und uns allein auf die Ruder verlassen mußten. Wir waren noch keine Stunde unterwegs, als die starken Wellen, die unsere Nußschale ganz artig hin und her schaukelten und dann und wann auch kleine Spritzwellen hineinwarfen, auf unsere Leute schon ihre verderbliche Wirkung zu äußern begannen. Der Stuttgarter lag wie ein Leichnam blaß und fahl ausgestreckt auf der Bank und konnte nichts weiter thun, als seinen Mageninhalt bis auf den letzten Tropfen entleeren und versichern, ihm sei noch nie so schlecht zu Muth gewesen, der Wiener folgte bald seinem Beispiel und auch die andern begannen starke Spuren des mal de mer zu zeigen, vor dem sie sich durch Riechen an Orangen und Singen von Volksliedern zu schützen suchten. Ich konnte mich über die komische Situation der Leute, die noch dazu vorher stark renommirt hatten, um so mehr lustig machen als mir grade dies Schaukeln sehr angenehm ist und ich mich ein für alle mal gegen Seekrankheit sicher weiß. Um so mehr genoß ich die herrliche Natur, deren Reize sich rings entfalteten und die ich von meinem hohen luftigen Sitz aus aufs beste genießen konnte. Die Fahrt durch den Golf von Neapel ist überaus prächtig, durch die mannigfaltige Abwechslung, welche die reiche Küste der Campagna felice, das malerische Gestade vom Cap Misen bis zum Cap Campanella darbietet, ein reizendes Halbrund, dessen südliche reiche Kultur, das warme volle Leben eigenthümlich mit den pittoresken, theils b wilden, fernen und öden Felsparthien der Gebirge contrastirt. Ist man in der Mitte des Golfs, so könnte man fast glauben, sich auf einem weiten Binnenmeer zu befinden, so treten rings die Ufer in weitem Halbkreis zusammen: zunächst im Nord Westen die mächtig gethürmte Insel Ischia mit dem hohen Ipomen, dann Procida, das steile kühne Cap Misen, die ganze reizende Küste von Bajae und Pozzuoli, ferner als zweite Vorlagerung der Posilip, mit Nisita dem Felseneiland an der Spitze, nach Nord Osten bis zum Castell Elmo sich hinauferstreckend, an dessen Fuß die mächtige große Stadt mit ihrer weißen Häusermasse, Castellen und Thürmen sich anschmiegt, dann eine zusammenhängende Häuserreihe, die sich am Stand bis Sorrent hinzieht und weiter dahinter der prächtige rauchende Vesuv, mit seinen mitten aus der flachen Campagna so schön geschwungen aufsteigenden sanften Kurven, endlich die weite Bucht von Castellamare, das steile pittoreske Ufer von Sorrent selbst, das bis zur Campanella im Süd Osten hinzieht. || Gegenüber dieser äußersten Spitze steigt Capri schroff und kühn aus der dunkelblauen Fluth empor, um so steiler und wilder, je mehr man sich ihm nähert. Trotz kräftigen Ruderns ließ uns doch der halb conträre Wind nur so langsam vorwärts kommen, daß die Sonne sich schon stark zum Untergange neigte, ehe wir noch die Höhe von Sorrent erreicht hatten, dessen weit in steiler Krümmung nach Nord West vorspringendes Cap wir uns schon sehr näherten. Kaum hatten wir dies jedoch passirt, als wir in den Bereich eines frischen Ost Süd Ost Winds gelangten, der uns das Segel wieder aufzuspannen erlaubte und dann ziemlich rasch lavirend die letzte Strecke forttrieb. Doch war es schon ganz finster, als wir uns der Küste näherten, an der wir erst nach 8 Uhr landeten. Wir hatten also über 7 Stunden zu der Überfahrt gebraucht, die man bei günstigem Segelwind in 3 Stunden zurücklegt. Wir stiegen vom Strand in ½ Stunde auf ziemlich steilen Stufen zu dem Städtchen Capri hinan, das mitten in der tiefsten Aussattlung zwischen den beiden Spitzen des Eilands liegt und wo wir in dem Hôtel Pagano freundlichst aufgenommen wurden. Dieses Albergo wird als das angenehmste und der Wirth als der redlichste und beste von ganz Italien gerühmt, c ein Lob, das wir auf jeder Seite des Fremdenbuches geschrieben fanden und nach unseren 2tägigen Erfahrungen nur bestätigen konnten. Wie in den Schweizerpensionen am Genfersee, so giebt man sich auch hier, in Ischia und in Sorrent, im Ganzen in Pension (in der „Villeggiatura“) und hat dann für etwa 1 rℓ täglich Wohnung, vollständige Beköstigung, Bedienung, Licht etc. Wir war in jeder Beziehung trefflich aufgehoben und die freundliche, zuvorkommende Bedienung der Leute ließ Alles doppelt angenehm erscheinen und uns ganz vergessen, daß wir in Italien waren. Auch das Wirthshaus selbst ist allerliebst und ganz wie ein süddeutsches, gemüthliches Gebirgswirthshaus, einfach, nett und sauber, eingerichtet. Von seiner reizende Lage bekamen wir erst am folgenden Morgen eine Vorstellung, als wir um 5 Uhr auf das flache Dach über unserem Zimmer hinaustraten und uns mitten im Sattel des malerischen Eilands, zunächst von blühenden Orangengärten und Rosen umgeben, erblickten, zu nächst zu unseren Füßen in Paganos Garten eine herrliche Palme, berühmt durch ihren hohen, schönen Wuchs. Im Osten steigt das steinige, von Olivengärten und Fruchtfeldern unterbrochene Felsland zu der schroffen Ostspitze empor, auf der sich der Palast des Tiber erhebt. Im Westen wird der weitere Blick durch den höchsten Punkt der Insel, den Monte Solaro, abgeschnitten, dessen Fuß ein breiter Steinwall d umgiebt, auf dessen seitlichen Erhebungen alte Castelltrümmer liegen. || Der erste Maimorgen war so köstlich, daß wir ihn gleich zu einer hübschen Excursion zu benutzen beschlossen, und nach einem munteren Frühstück, bei dem uns der Duft der blühenden Orangenbäume durch die Fenster hinein wehte, aufbrachen und den steilen steinigen Weg nach dem Castiglione herauf stiegen, dem Castell in der Mitte der Westküste, von dem man einen prächtigen Blick auf die pittoresken Felsformen dieser Seite, wie auf den Strand, der senkrecht tief unter dem Beschauer ins blaue Meer abstürzt, genießt; weiterhin bildet die ganze bebaute Sattelaushöhlung dazu einen hübschen Gegensatz. Von da stiegen wir zum Strand herab und nahmen uns eine Barke, um die ganze Insel rings zu umfahren. Dieser „giro“ ist äußerst interessant und gewährt das beste Bild von dem wilden grottesken Charakter des malerischen Felseilands. Fast überall stürzen die Felsen ganz steil ins Meer hinab, an vielen Orten senkrecht, an einigen sogar überhängend. Ein eigentliches Vorland existirt nirgends; ebenso fehlt weithin auch der Strand und nur die mittlere tiefe Einsattlung dacht sich allmählich ab, so daß beiderseits am Fuß derselben sich einige kleine Hütten haben anbauen können. Der nackte graue Fels ist ungemein zerrissen und zerklüftet und giebt in seiner wilden, phantastischen großartigen Conformation dem Landschaftsmaler reichsten Stoff. Überall ist er von den Meereswogen und dem malerischen Wasser mannichfach abgewaschen und ausgehöhlt und man zählt bei der Rundfahrt um die Insel einige 20 größere und sehr viele kleine, zum Theil weit in den Fels hinein vertiefte und mit schönen, langen Stalaktitenzapfen besetzte Grotten, die meist ganz unzugänglich sind. Überhaupt kann man nur an ein paar Punkten baden und den jähen Fels erklimmen und dies ist eine mühselige gefährliche Arbeit. Im Ganzen ist die Insel kahl und die Fruchtgärten und die wenigen Bauern sind auf den von Wind geschützten tiefen Mittelsattel, in dem das Städtchen Capri liegt, beschränkt. Doch sind die charakteristischen Pflanzen des Südens, die breitblättrige indianische Feige (Cactus Opuntia), die Aloe mit dem hohen baumgleichen Blütenschaft (Agave americana), ferner die schöne baumartige Wolfsmilch (Euphorbia dendroides) reichlich vorhanden, ebenso die Oliven und Orangen, die mit ihrem Silbergrau und Freudiggrün in angenehmsten Contrast neben und durcheinander stehen. Reich ist aber das steinige Land an einer Fülle schönblühender Kräuter. || Am meisten erfreute mich der Anblick der interessanten Zwergpalme Chamaerops humilis, die an der Ostküste in zahlreichen Exemplaren mitten aus den Felsritzen, leider nur an ganz unzugänglichen Orten, herausgewachsen war. Es ist dies die einzige in Europa (rings am Mittelmeer) einheimische Palme, welche ich hier zum erstenmal wild wachsend sah; ein sehr niedriger, höchsten 3 – 6' hoher, schuppiger Stamm, dessen Gipfel ein dichter Busch fächerförmig gefalteter und gespaltener Blätter krönt, aus dessen Mitte die goldgelben Blüthentrauben heraushängen. Am Nord West Cap findet sich der Eingang zur weltberühmten „blauen Grotte“, der so niedrig ist, daß wir, um mittelst zweier kleiner Nachen hineinzukommen, uns auf den Boden flach niederlegen mußten. Das Licht hat fast gar keinen directen Zutritt und geht fast nur durch das Wasser gebrochen hinein, wodurch die ganze Höhle die zauberische lasurblaue Farbe erhält, von der alle ihre Wände widerstrahlen. Da dies Blau von der Brechung durch das Seewasser herrührt, wechselt es auch mit der Farbe dieses letztern und was dasselbe ist, mit dem bedeckten oder ganz sonnenklaren Himmel, der die Meeresfarbe modificirt. Nur wenn dieser vollkommen rein und die See ganz ruhig ist, strahlt Alles im herrlichsten tiefen Blau. Heute war beides nur annähernd der Fall; doch blieb immerhin der Anblick sehr interessant und namentlich erschienen die lasurblauen Stalaktiten, die von der Decke der Höhle herabhängen, im schönsten Licht. Auch das Wasser selbst, auf dessen tiefen Grund man die einzelnen Seepflanzen unterscheiden kann, erschien in ganz eigenthümlicher klarer Lasurfarbe. Die Grotte, die erst 1826 von dem deutschen Maler und Dichter Kopisch entdeckt wurde, ist übrigens nur 30' hoch und etwa 100' lang, also kleiner als man sie sich nach den gewöhnlich übertriebenen Abbildungen vorzustellen pflegt. Ganz eigenthümlich reflectiren die in das Wasser geworfenen Körper das Licht; besonders sollen die Menschen wie Silberfische aussehen, und da die Schiffer, die das Experiment gewöhnlich vorzumachen pflegen, heute, entweder aus Aberglauben, oder weil es ihnen zu kalt war, nicht hineinspringen wollten, so machte ich meinen Gefährten dies Vergnügen, und hatte dadurch selbst den größten Genuß, nämlich den ganz wundervollen Anblick des reinsten himmlischen blauen Lichtes, das ich je gesehen, als ich tief untertauchte und dann durch das Wasser in die Höhe sah. Die Schiffchen mit den Leuten schienen wie in der Luft zu schweben und die e unter Wasser stehenden Kalkwände der Höhle mit den darauf sitzenden Gewächsen schimmerten im herrlichsten Silberglanz. Nachdem ich auch bis in den Grund der Höhle hinter geschwommen, von wo sich die blaue Wölbung am schönsten ausnimmt, schwamm ich durch die kleine Eingangsöffnung wieder hinaus und stieg erst draußen wieder in den Nachen ein. Es war ein köstlicher Genuß! Wir fuhren nun um die Westseite herum und an der ganzen Südküste entlang, deren Felswände noch malerischer, wilder, zerissener, mannichfaltiger sind und noch steiler und höher in das Meer hängen, als diejenigen der Nordküste. || In den verschiedensten Höhen ist der grauviolette, nur mit spärlichen Vegetationsspuren bedeckte, zerklüftete Kalkstein von einer Menge kleinerer und größerer Höhlen und Grotten durchbrochen, vonf deren oberen Wänden und Decken zum Theil g langeh Stalaktitenzapfen herabhängen. Im Gestade ist der Fels so vom Meer ausgespült und umgeformt, daß an manchen Stellen isolirte Blöcke oder auch überwölbte Felsthore zurückgeblieben sind, wie das in Helgoland in noch größerem Maaßstab der Fall ist. Besonders malerisch war der Anblick der sogenannten „grünen Grotte“, eines solchen natürlichen Felsthors, durch das wir hindurch fuhren und in dem das Wasser in zartbläulich grün erschien, ferner das sogenannte Arco naturale, eines hohen portalgleichen Felsbogens unter dem Castiglione, endlich der sogenannte „Faraglioni“ zweier mächtiger isolirter Klippen, wie noch mehrere kleinere sich am Ostrand finden. Sehr hübsch war auch der Anblick der nun vertrauten Küste des Festlands, das am meinsten vorspringende Capo Campanelle, dahinter rechts die Küste von Amalfi, links von Sorrent. Um den Fuß des Tiberfelsens herumfahrend gelangten wir wieder an die Nordküste, wo wir um 1 Uhr an der grande marina anlegten. Da bis zum Mittagessen noch 1 Stunde Zeit war, benutzte ich diese zu einem, leider vergeblichen, Versuch, mir eine Palme von einem Felsenvorsprung herabzuholen. Nach Tisch hielten wir etwas Siesta in dem herrlichen, blüthen- und duftreichen Rosen- und Orangen-Garten des Pagano und machten dann einen Spaziergang nach dem Ostrand der Insel, auf den Tiberiusfelsen, von dessen Höhe der grausame Römer seine Sklaven sich zum Vergnügen ins Meer stürzen ließ. Auf der höchsten Spitze sind noch ziemlich ansehnliche Ruinen mit Mosaiken und Wandmalereien, aus den Substructionen und dem Erdgeschoß des Kaiserpalastes. Die Aussicht von hier hinunter auf die gegenüber liegende Küste, rechts auf das [in] blauer Ferne duftig hingestreckte Calabrien, gradgegenüber Campanella, links die Küste von Sorrent, weiterhin den Vesuv und die Campagna felice, ist ganz entzückend; ebenso der Rückblick nach Norden, auf Ischia, Cap Misen, Bajae etc. Ich benutzte die 3 noch übrigen Stunden des Tages, um noch einen Versuch zu machen eine Palme zu erlangen und kletterte von dem 1200' hohen Tiberiusfelsen auf dem nördlichen, allein zugängigen Absturz, direct an das Meeresufer hinunter, in der sichern Hoffnung, auf irgend einem der vielen isolirten Felsenvorsprünge einen Chamaerops zu erreichen; leider wieder vergebens; ich kam zwar einigen ganz nahe, doch reichten alle meine Turnerkünste nicht hin, mich zu dem ganz isolirten Fels selbst hinaufzuschwingen. Traurigen Herzens mußte ich also ohne die Palme die 1200' wieder hinaufklettern, eine mühselige Anstrengung, mit der ich eben fertig war, als die Sonne ihre letzten Strahlen auf die Calabrische Küste warf. Doch sah ich noch etwas von dem köstlichen blauröthlichen Duft, in den Meer und Gebirg sich hüllten. || Übrigens wurde ich für die mangelnde Palme wenigstens einigermaßen durch einen reichen Schatz anderer schöner südlicher Frühlingspflanzen entschädigt, die überall aus den Felsen hervorsproßten und den Steinboden mit prächtigen Blüthen schmückten, vor allem den Asphodelus albus, eine 4' hohe, verzweigte Lilie mit sehr vielen großen weißen Blüthen, die nach Homer die Elisäischen Gefilde schmückt, dann ein paar herrliche Orchideen, 2 große Ophrysarten mit sonderbaren insectenförmigen Blüthen, eine große rothe Orchidee mit langer Unterlippe, dann sehr hübsche bunte Schmetterlingsblumen, große weiße Cistusrosen, ferner die echt südeuropäische Tamus communis, Arum italicum, ein hoher rother Gladiolus etc. Die ganze große Trommel war mit Schätzen gefüllt. Als ich am späten Abend zurückkehrte, fand ich meine Reisegefährten eifrig damit beschäftigt, sich von 4 Capreserinnen die berühmte Tarantella beim Schalle des Tamburins vortragen zu lassen, ein Vergnügen, das würdigen zu können ich viel zu müd war und mich daher bald süßem Schlaf mich überließ. Am andern Morgen waren wir schon um 5 Uhr auf den Beinen, d. h. Herr v. Both, der Stuttgarter und ich, um in Gesellschaft eines hiesigen Marineofficiers, eines Signore de Luca, dem fast der 4te Theil der Insel zugehört, eine Excursion nach Anacapri zu machen. Wir fuhren im Nachen wieder um die Westspitze herum, an der blauen Grotte vorbei, und landeten an dem einzigen zugängigen Punkt der Südwestküste, wo wir das Territorium des Signore de Luca betraten. Während die 3 andern sich mit Wachtel (Quaglia) Jagd, mit Gewehr und mit großen Netzen, vergnügten, suchte ich Pflanzen, fand aber weniger, als Abends zuvor auf dem Ostcap. Nur ein schöner, weißblühender Cistusstrauch, gemischt mit einem kleinen gelben Helianthemum, bedeckte die Felsen in größter Menge, dazwischen einige kleine Labiaten und Viciaarten. Signore de Luca führte uns nun einen steilen, steinigen Weg, größtentheils durch seine Besitzungen, mit sehr malerischen Aussichtspunkten, weiterhin durch blühendes, fruchtbares Gartenland, nach Anacapri hinauf. Besonders erfreut wurden wir hier durch den Anblick vieler junger, grünender Eichen, die die Heimathsgefühle unserer deutschen Herzen mächtig erregten und sich zwischen den grauen Oliven sehr vortheilhaft ausnahmen. Von einem hohen alten Wartthurm hatten wir einen hübschen Blick auf den Monte Solare, dem höchsten (2000') hohen Punkt der Insel, an dessen Fuß Anacapri, das andere, größere und höhere Städtchen der Insel, liegt. Hier verließ uns unser Begleiter de Luca, ein sehr artiger kleiner Mann, der uns die vortheilhafteren Seiten des italienischen Characters repräsentirte, besonders die zuvorkommende Gefälligkeit und die gentilezza, dabei aber auch den bedeutenden Mangel an Bildung und wirklicher Tüchtigkeit. || Als wir das kleine Gebirgsstädtchen durchschritten hatten, wurden wir beim Heraustreten durch eines der herrlichsten Landschaftsbilder überrascht, welches an poetisch malerischem Reiz wohl alle vorher gesehenen übertraf. Zwischen den letzten Häusern tritt man auf eine frei vorspringende Felsplatte hinaus, die 1400' fast senkrecht in das herrliche grünlichblaue Meer hinabfällt. Rechts im Vordergrund die östliche Hälfte der Insel, den fruchtbar grünen, freundlich bebauten Sattel, von einem breiten Felsgürtel umschlungen, der am Nordgestade vom Tiberiuspalast bis zum Städtchen Capri in malerischer S förmiger Krümmung sich hinzieht. Unmittelbar zu den Füßen die steile Treppe, die in 590 Stufen den Sattel hinabführt. Im Hintergrund erschien in reizender Rundung die herrliche gerundete Buch von Sorrent, mit der malerischen wilden Bergkette, die vom Vesuv bis zum Cap Campanella hinzieht, deren höchste Spitze der Mont Angelo ist. Der Anblick war so entzückend, daß ich schon allein um seinetwillen noch einmal nach Capri zurückkehren muß und ein Aquarell davon nehmen. Die malerische Staffage des Vordergrunds wurde durch 3 bildschöne Capreserinnen vervollständigt, welche in sehr malerischem Costuem, Ölkrüge auf dem Kopf tragend, die Treppe hinanstiegen. Merkwürdigerweise sind beide Geschlechter auf Capri ebenso hübsch, als sie in Neapel durchgängig häßlich sind. Hier lernt man überhaupt erst die schönen Gesichter und die malerischen Trachten schätzen und würdigen, an denen in Rom so großer Überschuß war.

Der Herabweg auf den Treppen bot immer neue, reizvollere Aussichten, so daß wir erst um 12 Uhr Mittag in unserm lieben Hôtel Pagano wieder anlangten. Nachdem wir noch rasch gefrühstückt und von unsern höchst liebenswürdigen Wirthsleuten herzlichen Abschied genommen, stiegen wir an den Strand hinunter, wo ein Bootsführer aus Sorrent, eine Retourgelegenheit, unserer wartete. Nur höchst ungern schied ich von dem reizenden Eiland und mit der festen Absicht, längere Zeit hier zu weilen. Am liebsten wäre ich noch einen Tag da geblieben und mit der Fischerbarke direct nach Neapel zurückgefahren. Meine Gefährten hatten aber solche Furcht vor der Seekrankheit, daß sie um jeden Preis den Landweg über Sorrent nehmen wollten. Die Überfahrt nach Sorrent war bei dem reizendsten Wetter in 2 Stunden vollendet. Dort nahm ich noch ein Bad. Wir zankten uns weidlich mit Wirthen und Vetturins herum, die hier besonders unverschämt sind, und fuhren endlich um 5i Uhr direct nach Castellamare, in 1½ Stunden. Die neue dorthin führende Chaussée geht überaus reizend beständig am Meeresstrand hin, an dem steilen Felsgestade höchst malerisch auf- und ab-kletternd. Die wundervolle Lage Sorrents erblickt man dabei in ihrer ganzen Pracht. Um 8 fuhren wir per Eisenbahn von Castellamare nach Neapel zurück.

[Adresse]

vapore diritto. Marsiglia. | Frl. Anna Sethe | p. Adr. Hr. Kreisrichter Haeckel. | Freienwalde a/O | via Berlino. | (Prussia) | franco fin alla Prussia.

a eingef.: gegenüber; b gestr.: recht; c gestr.: da; d gestr.: dasselbe; e gestr.: Wa; f eingef.: von; g gestr.: mit; h korr. aus: langen; i eingef.: 5

 

Letter metadata

Verfasser
Empfänger
Datierung
09.05.1859
Entstehungsort
Entstehungsland
Zielort
Freienwalde
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
A 39186
ID
39186