Ernst Haeckel an Charlotte und Carl Gottlob Haeckel sowie Anna Sethe, Neapel, 1. – 4. April 1859
Neapel 1.4.59.
Endlich bin ich denn heute nach vieler Mühe in den Besitz einer definitiven Wohnung an der Santa Lucia gelangt und es soll mein Erstes darin sein, Euch Lieben Allen einen herzlichen Gruß daher zu senden. Diese kurze Straße, welche von Allen in Neapel fast die schönste Lage hat, ist für meine Zwecke ganz besonders durch ihre Lage unmittelbar am Fischmarkt (am Strand) geeignet und wird mich daher wohl während meines ganzen Aufenthalts in Neapel beherbergen. Wahrscheinlich werde ich das Zimmer bald mit einem bessern und billigern vertauschen; vorläufig mußte ich schon zufrieden sein, nur dieses zu bekommen, da jetzt noch ein Fremdenconflux hier herrscht, wie er nur selten da gewesen ist. Aus diesem Grunde ist das Leben jetzt hier auch doppelt so theuer und die Menschen doppelt so unverschämmt [!], wie später im Sommer, wo ich das jetzt zu viel ausgegebene wieder einzusparen hoffe. Jetzt bin ich schon herzlich froh darüber, daß ich nun wenigstens bald werdea anfangen können zu arbeiten; morgen werde ich die hiesigen Naturforscher besuchen und diese werden mir hoffentlich Fischer anweisen, die mir Material bringen können. Das Interimisticum der letzten 5 Tage war nichts weniger als angenehm und ich sehe der frischen Arbeit mit wahrer Sehnsucht und neuer Lust entgegen. Zum ordentlichen Umherstreifen in der wundervollen Umgegend Neapels wird es jetzt wohl wenig kommen; auch ist es fast noch zu früh dazu, namentlich im Gebirg. Ich verspare mir diese Freuden lieber auf die heißesten Monate, wo ich doch nicht viel werde arbeiten können. Wie ihr aus meinem letzten Brief, b am Tage meiner Ankunft (28.3.) in Neapel geschrieben, jetzt bereits wissen werdet, war unsere Überfahrt von Rom (Civita vecchia her) sehr angenehm, um so unangenehmer der Empfang, der uns hier durch die Paß- und Zollbeamten, Facchini und Bootsführer, bereitet wurde; eine Menschenklasse, die wohl kaum irgendwo verdorbener und impertinenter sein kann, als hier. Alle Proben italienischer Frechheit und Infamie, die ich bisher, namentlich in Genua und Livorno, genossen, sind gegen diese hier in Neapel nur Kinderspiel. Die Impertinenz und hinterlistige Verschlagenheit dieser Leute bietet uns täglich eine Masse Proben, die nach unsern Ansichten und Begriffen ganz unglaublich sind. Überhaupt hat Alles, was ich bisher von den Neapolitanern gesehen und gehört habe, mir dieselben in möglichst schlechtem Lichte gezeigt, und man muß die andern Italiener, im Vergleich mit diesen, noch als sehr gebildete und feine Leute rühmen. Von diesem Grad der Unwissenheit, Rohheit, Trägheit und Sittenverderbniß kann man sich nach unserem Maaßstab nur schwer einen Begriff machen und es läßt sich dies nur einigermaßen dadurch erklären, daß Neapel fast ganz allein von den Fremden lebt und daher alle Kunst und ihr ganzes Streben nur darauf hinausläuft, diese „forestieri“ möglichst systematisch auszuplündern, was ihnen mittelst ihrer Schlauheit und Frechheit auch vortrefflich gelingt. ||
Montag 28.3.59. Gleich nach der Ankunft, sobald Polizei und Douane abgefertigt, und was noch viel schwieriger war, die Facchini befriedigt (welche trotz vorherigem Accordiren nachher das 4fache verlangten!) ging ich, mein Gepäck bei einem Schweizer im Hôtel de France zurücklassend, nach der Preußischen Gesandtschaftsapotheke zu Herrn Berncastel, an den mich Dr. Diruf empfohlen hatte, und wo auch Dr. Binz jetzt wohnt. Sodann wanderte ich gleich nach der Santa Lucia, wo ich aber Alles besetzt fand und in keinem der vielen Hôtel garnis ein Unterkommen finden konnte. So ärgerlich mir dies war, vergaß ich es doch fast über der wundervollen Aussicht, die mich hier überraschte, und über dem Anblick des geliebten Meeres, an dessen Strandsteinen ich ein wenig umherkletterte, um mich schon vorläufig von seinem Reichthum an Algen und niederen Kleinthieren zu überzeugen. Dann ging ich wieder zu Herrn Berncastel, der so gütig war, mir eine provisorische Wohnung in seiner Nähe, Grottone del Palazzo, 25, II piano zu verschaffen, wo früher Dr. Diruf gewohnt, ein ganz hübsches Zimmer, von dem aus man ein Stück Vesuv sieht. Mit dem Herüberholen und Einräumen des Gepäcks verging der Nachmittag. Um 4 Uhr zu Dr. Binz, welcher mich an der deutschen Wirthstafel des Herrn Mecklenburger einführte. Ich traf daselbst fast nur Deutsche: einen Lieutnant von Both aus Mecklenburg, welcher sehr schöne und viele Reisen im Orient gemacht hat und Italien sehr gut kennt, ein gefälliger, netter Mann; den Gesandtschaftsattaché Herrn von Gersdorf, den Gesandtschaftsprediger Lueckebusch (ein Schüler von Onkel Bleek); ferner 2 junge Kaufleute, einen Wiener und einen Westphalen, einen livländischen Gutsbesitzer von Zoekkell, auch ein recht netter Mensch. Nur 2 Neapolitaner, ein junger Conte und eine alte Baronessa, sind mit am Tisch. Dr. Binz und ich sind die jüngsten. Im Ganzen gefällt es mir in der Gesellschaft und da ich keine andere jetzt hier fand und von den Leuten freundlich aufgefordert wurde, daran Theil zu nehmen, so habe ich dies bisher auch gethan. Doch bitte ich Dich, lieber Vater, mir zu schreiben, ob ich aus Rücksichten Deines Geldbeutels dies auch ferner thun darf; das Essen kostet nämlich 5 Carlin (beinah 16 Sgr.), während man hier in Neapel in den gewöhnlichen Kneipen gewiß auch für 4 Carlin sich satt essen kann. Doch ist es sehr gut und reichlich, und da es die einzige Tagesmahlzeit ist, lasse ich es mir gehörig schmecken. Nur früh trinke ich noch Caffé, den ich hier im Haus bekomme. Der Kaffeehauscomfort von Rom ist hier unbekannt; auch gehen sie mir überall, so selbst in den Kaffees, zu sehr darauf aus, den Forestiere zu betrügen, ihm das 3 und 4fache des Werths abzunehmen, so daß Alles viel theurer erscheint, als in Rom, obgleich man hier im Grund viel billiger leben kann. So muß ich jetzt auch für die Wohnung 4 Carlin (13 Sgr.) bezahlen, während man sie im hohen Sommer um die Hälfte haben kann. ||
Dienstag 29.3. Früh wanderte ich zunächst auf die Post, um euch das erste Lebenszeichen aus Neapel zu senden. Dienstags und Samstags gehen von hier immer die directen Schiffe nach Marseille ab, welche wahrscheinlich die Briefe in 4 Tagen bis Berlin befördern. Auf der Gesandtschaft wurde ich nicht angenommen, da Alles auf die morgen bevorstehende Ankunft des Königs sich rüstete, dann stieg ich nach dem entgegen gesetzten Ende der Stadt, Vico della Neve mater dei N. 30, wo Hauptmann Bloest wohnt, der Schweizerofficier, dessen nette Frau (eine Mannheimerin) ich in Rom hatte kennen lernen [!]. Sie empfingen mich sehr freundlich und luden mich ein, sie öfter Abends zu besuchen. Von dort stieg ich nach dem Hafen und der Strada nuova herab, welche sich längs dem Golf hinzieht. Unter mehreren Schweizerofficieren, die mir begegneten, erkannte ich einen Arzt sogleich als einen früheren Würzburger Studiengenossen, Dr. Goeldlin aus Luzern, welcher nicht wenig überrascht war, mich hier zu treffen. Er steht hier bei einem Schweizerregiment. Ich ging noch ein paar Stunden am Strand, bis zur Villa reale mit ihm spazieren und wir erinnerten uns mit Vergnügen der alten, in Würzburg zusammen verlebten Zeiten. – Mittwoch 30.3. Der herrliche Morgen lockte mich unwiderstehlich ins Freie und ich ging am Strand in c südwestlicher Richtung zu dem Höhenzug des Posilipo hin, welcher den Golf von Neapel nach Westen zu ein schließt, dann über diesen hinweg auf der wundervollen Strada nuova di Posilipo, reich an den allerherrlichsten Aussichten, welche den schönsten Stoff zu Landschaftsbildern zu hunderten darbieten. Die Straße zieht sich allmählich am steilen Fels ansteigend, immer längs dem Meere hin, das in wunderherrlicher tiefblauer Rundung zu den Füßen sich ausbreitet, gegenüber von der wunderschönen sanftgeschwungenen Bergcontour des Vesuv überragt, nach dem weiter südöstlich die zackigen Bergketten Sorrents (Monte Angelo) folgen, dann aus dem Meer auftauchend das äußerst malerische d Capri, eine mächtige Felsmasse von der schönsten Form. Diesem köstlichen Hintergrund gegenüber bieten die zahllosen kleinen Buchten am Fuß des Posilip, mit ihren niedlichen Villen, alten Ruinen und der prachtvollen Vegetation auf den steil ins Meer vorspringenden Felsblöcken den reichsten, mannichfaltigsten Stoff zu einem prächtigen Vordergrund. Bei jeder Wendung des Weges erschien mir das Bild neu reizend und entzückend, so daß ich mir dutzendweis den Plan zu kleinen Landschaftsbildern in Gedanken skizzirte. Wie wurde ich aber überrascht, als ich auf der äußersten Spitze des Posilip, auf dem höchsten Punkte der Straße, am sogenannten Scoglio di Virgilio, von einer ganz andern Aussicht auf einen wunderbaren Golf, den von Bajae erblickte, in prächtig geschwungenen Rundungen bis zum Cap Miseno sich erstreckend, dessen zackige Contouren von den mächtigen blauen Bergen der Insel Ischia überragt wurden. Am Strande hin sah ich die rothen Häuser von Bagnoli und die weißen von Puzzuoli. Einen reizenden Vordergrund gab aber die nahe Felsmasse der kleinen Insel Nisita ab, und das zwischen ihr und dem Strand gelegene Inselchen Lazzaro, auf dem die Quarantäne sich befindet. || Der Strand war so fein sandig und glatt und der frische Südostwind blies so prächtige große Wellen hervor, daß mich unwillkürlich die Lust, ein Bad zu nehmen, ergriff. Gedacht, gethan. Meine Kleider in einer entlegenen Grotte der Virgilsklippe zurücklassend, sprang ich mit Wonnegefühl in die blaue, klare Fluth und ließ mich von den mächtigen, schäumenden Wogen tüchtig durchpeitschen, schwamm auch eine kleine Strecke nach Nisita zu hinaus. Natürlich war das Wasser noch ziemlich frisch, doch glaube ich kaum unter 10o R, also mehr, als ich in Helgoland oft gehabt habe. In unserer Nord- und Ost-See wird es wohl im März etwas kälter sein! Nach der Ansicht der Italiener kann man nur im hohen Sommer baden (Juni–August) und sie halten ein Bad im Frühjahr für lebensgefährlich, natürlich ohne allen Grund. Das meinige bekam mir trefflich und ich wünschte nur, alle Tage Zeit zu haben, mir diesen Genuß zu verschaffen. Nahe dem Ort, wo ich mein erstes Mittelmeerbad in diesem Jahre nahm, befinden sich die Ruinen der Bäder des Lucull, und die Umgegend war so reizend, daß ich sehr gern noch auch den Golf von Bajae mit Puzzuoli etc umwandert hätte. Leider mußte ich aber um 1 Uhr beim Gesandten sein, der mich von gestern auf heut bestellt hatte. Ich trat also gleich nach dem Bad meinen Rückweg an, der mir die Reihe reizender Landschaftsbilder in noch schönerer Folge wiederholte. Die Felsen prangten zum Theil schon in der herrlichsten Vegetation und waren auf große Strecken mit rothen Levkojen (Matthiola rupestris), gelbem Kohl (Brassica incana) und weißen Kreuzblumen (Lobularia) sowie mit einer blauen Boraginee bedeckt. Ich kam um 1 Uhr noch grade zurecht, um den Gesandten, Herrn v. Canitz, zu sprechen, der mich in Folge der Empfehlung des Ministeriums des Äußern sehr wohlwollend empfing und mir allen möglichen Beistand anbot. Von dort ging ich zur Santa Lucia 31 und machte Herrn v. Both und v. Zoeckell einen Besuch. Den Rest des Tages verbrachte ich mit Ordnen der Briefe etc. – Donnerstag 31.3. Excursion nach Castellamare mit den beiden Herrn v. Both und v. Zoeckell. Wir fuhren dahin mit der Eisenbahn in 1 Stunde, die immerfort am Meeresstrand längs des wundervollen Golfs sich hinzieht. Fast immer hat man prächtige Aussichten, links auf den Vesuv, an dessen Fuß man ganz nah vorüber kommt, rechts auf das Meer mit seinen prächtigen Küsten. Um 8 Uhr waren wir in Castellamare, wo wir durch einen schönen jungen Buchenwald, hier eine sehr seltene Erscheinung, zu dem hoch auf dem Berg Coppola gelegenen Lustschloß des Königs „Quisisana“ („Hier gesundet man“) emporstiegen. Die Aussicht von dessen Plattform und von dem umgebenden Garten ist wundervoll. ||
1.4.59
An dem Fuß des Monte Coppola, auf dem Quisisana liegt, erstreckt sich Castellamare, zwischen Meer und Fels eingekeilt und an letzterem steil emporsteigend, lang hin. Zur Linken übersieht man den ganzen prächtigen Golf mit den schöngeformten Inseln und der weißen Häusermasse, die den weiten Strandbogen in seiner ganzen Ausdehnung ziert; zur Rechten die Campagna felice, die herrliche fruchtbare mit Tausenden von Villen und Dörfern besäete Ebene des vulcanischen Bodens, die sich zwischen dem Vesuv und den Sorrenter Gebirgen (die noch zum Theil mit Schnee bedeckt sind) ausbreitet. Die Mitte des Bildes füllt der rauchende mächtige Vulcan, dessen Contour so schön und sanft geschwungen von allen Seiten allmählich ansteigt, daß sie unwiderstehlich zum Zeichnen reizt. Nachdem wir auch in den weiten Parkanlagen noch verschiedene schöne Durchblicke genossen, stiegen wir zum Hafen hinunter, wo wir lange Zeit dem ewig wechselnden Spiel der mächtigen Wellen zuschauten, die ein heftiger Südwestwind mit starker Sturmesgewalt und lautem Donner gegen die schroffen Felsen schleuderte. Um 12 Uhr fuhren wir in einer Barke zu dem hier im Hafen vor Anker liegenden, großen Russischen Linienschiff II. Ranges: „Redvisan“ (Gerechtigkeit) hinüber, welches zur Begleitung des jetzt in Neapel weilenden Russischen Großfürsten Constantin gehört. Wir waren dazu aufgefordert, durch einen Vetter des Herrn v. Zoeckell, der als Seekadett auf dem Schiff dient und uns überall in demselben herumführte. Wir sahen uns sehr genau die ganze Einrichtung des schwimmenden Palastes, in allen seinen Gemächern und Stockwerken an, so daß wir den ganzen Nachmittag dort verbrachten. Obwohl ich schon einmal in Genua ein Linienschiff, den Carlo Alberto, der gerade zum Admiralschiff ausgerüstet wurde, gesehen, so war mir doch dieser genaue Besuch des Redvisan viel interessanter, da ich die ganze Einrichtung bis in die kleinsten Umstände und Details hin ganz genau ansehen konnte. Die dabei herrschende Ordnung, Reinlichkeit und sorgfältigste Benutzung des Raums ist wirklich bewundernswerth. Der Redvisan hat 84 Kanonen und 800 Mann Besatzung. Auf dem Vordertheil steht eine mächtige Kanone, die von hinten (wie die Zündnadelgewehre) gelanden wird und 68pfündige Kugeln wirft (nach der patentirten Erfindung des Herrn v. Warrnstedt). Besonders interessant war mir die colossale, im untersten Raum verborgene Dampfmaschine (von 500 Pferdekraft) mit der mächtig langen und starken eisernen Welle und der riesigen Schraube. Auch die oekonomische Einrichtung der beiden Stockwerke, in denen die 84 Kanonen stehen, ist sehr hübsch. Der Kapitän (Baron von Taube, ein ausgezeichneter junger Seeofficier, der binnen 10 Jahren schon 6 Schiffe verschiedener Größe commandirt hat) besitzt nicht weniger als 4 schöne Zimmerchen, die sehr geschmackvoll eingerichtet und mit rohem Eichenholz meublirt waren. Ebenso war auch die Einrichtung der Tagelage auf dem Deck sehr interessant. || Vom Deck kletterte ich auf einer Strickleiter zu dem in der Mitte des großen Mastes befindlichen Mastkorb empor, von wo ich den ganzen in Hafen mit seinen Fahrzeugen übersah und schöne Ansichten der Küste und des Meeres hatte. Die Beleuchtung wurde immer schöner, so daß wir am Abend noch einen köstlichen Rückweg hatten. – Freitag 1.4. Heut früh ging ich zunächst auf den großen Fischmarkt an der Strada nuova, wo ich aber außer einigen Tintenfischen (Octopus) (die Saugnäpfe an den Armen hatten zum Theil über 1 Zoll Durchmesser!!) und vielen schönen Sparoiden nicht Viel Besonderes sah. Doch war das laute lärmende Geschrei und das bunte, geschäftige Leben auf diesem Punkt des Hafens besonders interessant. Von da ging ich zur Santa Lucia, wo ich denn endlich eine Wohnung fand, ganz für mich passend, obwohl gerade nicht besonders schön, und auch noch ziemlich theuer (täglich 4 Carlin = 13 Sgr.) fand. Ich zog sogleich ein. Das Zimmerchen ist ziemlich klein und sehr einfach. Es liegt im II. Stock des letzten Hauses der Santa Lucia, Nr. 21, an der Ecke, die nach der Chiaja herumführt, unmittelbar dem Castel del ovo gegenüber, welches hier vom Strand rechtwinklig in die See vorspringt. Das Beste an der Wohnung ist die Lage, die unvergleichlich schön ist. Wie alle Zimmer hier, hat auch dieses nur ein einziges Fenster, das zugleich Thüre ist und auf einen kleinen Balkon hinausführt, so groß, daß es die Hälfte der nach dem Meer schauenden Wand einnimmt. Der Blick, der sich mir den ganzen Tag über durch diese, natürlich immer offen stehende Fensterthüre darbietet, ist so schön, als ich ihn mir nur wünschen kann; die volle Front nimmt über dem Golf drüben der herrliche Vesuv in seiner ganzen Länge ein, dessen glühende Lavamassen mir alle Abend das prächtigste Feuerwerk darstellen. Rechts sehe ich über das malerische Castel del ovo hinweg auf die zackigen Sorrentiner Gebirge und weiterhin das schöne Capri; links über das Arsenal und den Leuchtthurm, sowie über den Mastenwald des Hafens, nach dem schneebedeckten, höchsten Apenninenzug. Die reinste Seeluft weht mir den ganzen Tag voll und frisch über den prächtigen dunkelblauen Golf weg in das Zimmer hinein. Zu Füßen habe ich das bunte Gewimmel des Strandvolks, das muntere Fischerleben der Santa Lucia. Die Lage ist mir höchst erwünscht und angenehm. Über 2 kleine Treppen hinunter und quer über die Straße weg bin ich mit 20 Schritten am Strand, wo ich mir leicht immer frisches Seewasser, und wenn die Fischer kein ordentliches Material bringen, auch eine hinreichende Menge Algen und kleinerer Strandthiere ohne Mühe selbst verschaffen kann. In dieser Beziehung hat die Wohnung für mich eine bessere Lage als alle andern. ||
[An Anna Sethe]
Napoli, 3.4.59.
Schon 8 Tage bin ich nun hier, mein liebster Schatz und wäre endlich so ziemlich eingerichtet, um meine Arbeiten beginnen zu können. Ich kann nicht grade sagen, daß diese 8 Tage mich sehr angesprochen und für den längeren Aufenthalt ermuthigt hätten. Der unzähligen Plackereien und Händeleien mit den Wirthsleuten, Fischern, Kaufleuten überhaupt mit allen den Menschen, mit denen man in Berührung tritt, sind zu viele, als daß man sich hier irgend gemüthlich und heimisch fühlen könnte und es wird wohl lange dauern, ehe ich mich daran gewöhnt habe. In dieser ersten Woche meines Neapolitanischen Aufenthalts habe ich darüber, trotzdem ich nun schon ziemlich in die italienischen Gewohnheiten eingeweiht zu sein glaubte, so viel ärgerliche und unangenehme Erfahrungen gemacht, daß ich für die ganze fernere Zeit ein gutes Lehrgeld gegeben habe. Die Unzuverlässigkeit, oberflächliche Leichtfertigkeit, der gaunerische Eigennutz übersteigt hier alle gewöhnlichen Grenzen und für einen rechten Deutschen ist dies Alles doppelt empfindlich. So kommt es, daß ich trotz der wundervollen Natur, die doch Alles gut machen sollte, mich hier noch gar nicht recht wohl fühlen kann und in den ersten Tagen stärkeres Heimweh, heftigere Sehnsucht nach meinem besten Schatzchen empfand, als fast vorher auf der ganzen Reise. Einen großen Theil der Schuld, daß mir die schöne Natur Neapels nicht alle diese unangenehmen Empfindungen mehr verwischt hat, muss das herrliche, unvergleichliche Rom tragen, von dem mir der Abschied ordentlich schwer wurde und dessen wundervolle Kunst- und Naturschätze einen so unauslöschlichen Eindruck in mir zurückgelassen haben, daß ich mich jetzt fast ebenfalls wie nach einer zweiten Heimath danach zurücksehne und täglich von Neuem bedauere, nicht noch einen zweiten Monat verwandt zu haben, um mir diese Herrlichkeiten alle noch viel tiefer und gründlicher einzuprägen, als es in den ersten 4 Wochen, auch bei möglichst fleißiger Durchmusterung, möglich war. Ich wäre dadurch allen den Unannehmlichkeiten entgangen, die die Fremdenüberfüllung jetzt hier mit sich bringt und hätte die genußreichsten Wochen meines Lebens verdoppelt. Wirklich traf Alles in möglichst glücklichem Verhältniß zusammen, um mir den Aufenthalt in Rom so angenehm als möglich zu machen; indeß ist es vielleicht auch gerade gut, mit diesen 4 Wochen, in denen ich mir ein sehr vollständiges abgerundetes Bild der unvergleichlichen Stadt erworben hatte abzuschließen, ohne daß irgend störende Mißtöne sich in dessen reine Harmonie gemischt hatten. || Täglich, ja stündlich, rufe ich mir die köstlichen Stunden, in denen ich diese unvergleichlichen Eindrücke in mich aufnahm, in das Gedächtniß zurück und suche sie dort fester und reiner zu fixiren. Könnte ich nur das ganze köstliche Bild, das ich von Rom und seiner Kunst im Sinn trage, wie es ist, photographiren und euch Lieben hinschicken; ich glaube ihr würdet damit zufrieden zu [!] sein. Fast täglich erneuere ich auch den Vorsatz, all die geordneten Eindrücke zu Papier zu bringen – und doch, jedenfalls wenn ich die Feder dazu ansetze, sinkt mir der Muth dazu, es auszuführen. Die Masse des edlen Stoffes ist so überwältigend, daß ich nicht weiß, wo anfangen, und die Beschaffenheit desselben so edel, daß ich nicht wage ihn irgendwo anzugreifen und mit einer Art heiliger Scheu davor zurückschrecke. So haben sich bis e jetzt alle Aufzeichnungen über Rom auf das Tagebuch beschränkt, in dem ich mit dürren Worten das jeden Tag Gesehene und Erlebte eingetragen und in kurzen Worten charakterisirt habe. Wenigstens kann ich mir daraus später, falls ich jetzt nicht dazu kommen sollte, ein ziemlich vollständiges Bild von dem göttlichen Rom und der herrlichen darin verlebten Zeit wiederherstellen, wobei mich die Menge der Bilder und Ansichten, die ich mitbringe und auf die ich euch hauptsächlich vertrösten muß, sehr unterstützen werden. Vielleicht geht es mir mit Neapel auch noch ähnlich, daß es mir je länger, je mehr gefällt, wie es in Rom wohl den meisten geht. Anfangs fühlte ich mich auch dort nicht so heimisch und zuletzt mochte ich kaum wieder fort. Doch tritt da schon ein Unterschied ein, der die Auffassung von beiden wesentlich verschieden macht. In Rom hatte ich nur die eine Aufgabe: es möglichst genau kennen zu lernen und alle Herrlichkeiten möglichst zu genießen – ganz anders hier in Neapel, wo die Arbeitsaufgabe so in den Vordergrund tritt, daß sie mich nicht zu einem reinen Genuß kommen lassen wird. Eine dumme penible Gewissenhaftigkeit hat mir schon in dieser ersten Woche hier keine rechte Ruhe gelassen und mir alle Zeit, die ich nicht meinem wissenschaftlichen Hauptreisezweck widme verloren erscheinen lassen; überall, wo ich bis jetzt hier war fand ich nirgends rechte Ruhe und sah nirgends mit reinem Genuß und voller Hingebung die Naturpracht an. Das blaue Meer schien mir ordentlich vorwurfsvoll in die Augen zu strahlen, daß ich seinen Reichthum an Thieren und Pflanzen bisher noch so wenig gewürdigt und auf Bergen und in der Stadt mich herumtrieb statt daheim hinter dem Microscop zu sitzen. Nun, ich hoffe in dieser Woche wenigstens nachzuholen, was in der vorigen nicht mehr möglich war. ||
Am Samstag 2.4. packte ich Vormittags zum erstenmal denf Koffer und die große Botanisirtrommel aus, welche seit Berlin unberührt geblieben waren. Fast Alles ist ganz unversehrt und glücklich übergekommen, namentlich das Wichtigste Deine liebe herzige Photographie, die mir jetzt jeden Morgen beim Kaffeetrinken Gesellschaft leistet, ferner die Microscope, die Gläser etc. Nur einige Kleinigkeiten waren zerbrochen. Recht lebhaft mußte ich mir beim Auspacken alle die Umstände und Situtionen des Einpackens ins Gedächtniß rufen, wobei Du mich so treu und lieb unterstützt hast; Dir gebührt eigentlich allein die Ehre Alles so gut verpackt zu haben, daß es so wohl conservirt angekommen. Hab nochmals herzlichen Dank, mein bester Schatz, für alle Deine Liebe und Geduld, die Du dabei bewiesen, und die mir Deine Abschriften aus Koellikers und Siebolds Zeitschrift etc, Dein prächtiges Reisenecessaire, welches mir jeden Morgen unterwegs neue Freude gemacht hat, die Börse, die in Rom mein stetes Bajocchi-Gefängniß war, alle diese Zeichen Deiner reichen Liebe hier jede Stunde vergegenwärtigen würde, wenn ich nicht ohne das schon immer an Dich dächte und mir bei Allem, was ich hier denke und thue, sehe und genieße, Dein liebes Bild an die Seite riefe. Gewiß würde Neapel einen ganz andern viel heiterern Eindruck machen, wenn ich Dich wenigstens stundenweis herzaubern könnte. – Samstag Nachmittag machte ich die Visiten bei den hiesigen Zoologen, an die mir namentlich der gute Martens warme Empfehlungen mit gegeben hatte. Leider waren sie alle auf 1–2 Wochen in die Campagna verreist und ich traf nur Capitaen Acton, einen sehr netten jungen Seeofficier (in neapolitanischen Diensten, aber englischer Abstammung), einen eifrigen Conchyliensammler und Naturfreund, der mir von großer Wichtigkeit zu werden scheint. Vorläufig hat er mich schon mit einem Fischer bekannt gemacht, der mir täglich Material bringen wird. Gestern hatte er den ganzen Vormittag (Sonntag 3.4.) mit großem Interesse mit mir microscopirt bis 3 Uhr. Den Rest des sehr schönen Tages benutzte ich zu einer Excursion auf einen der schönsten Aussichtspunkte der Stadt, das Kloster San Martino, unmittelbar unter dem Castell Elmo. Den Rückweg nahm ich über die reizende Villa Belvedere und die an herrlichen Aussichten reiche Strada nuova di Maria Teresia. Heute, Montag, 4.4. besorgte ich erst früh einiges für die Arbeitseinrichtung, namentlich einen großen Eimer für Seewasser. Dann benutzte ich das herrliche Wetter, da mir Material heute noch fehlte, zu einer wundervollen Excursion nach Camaldoli, einem Kloster auf dem höchsten Punkt der nächsten Umgegend, allgemein als „der schönste Punkt der civilisirten Welt“ gepriesen. Wenn dies auch übertrieben ist, so ist jedenfalls nicht zu stark übertrieben und Camaldoli bleibt einer der allerreizendsten Orte. Das Nähere darüber nächstens. Heut fehlt der Raum. Dieser Brief wird Dich nun wohl schon in dem lieben Berlin wieder treffen; grüß mir recht Dein liebes Zimmerchen, unsern kleinen Tempel und alle die lieben Orte, an denen wir zusammen so viel Glück genossen haben. Nun wirst Du auch nicht mehr nöthig haben, mein confuses Briefgeschreibsel immer für die Alten zu copiren, an die ich diesen Brief auch sende. Adresse: Santa Lucia 21, II. piano, In casa di Filippi. ||
Napoli, 4.4.59.
Da morgen früh das directe Schiff nach Marseille geht, habe ich den Brief bis heute Abend liegen lassen, in der sicheren Hoffnung, heute wenigstens nicht vergeblich meine tägliche Wanderung in die Apotheke nach einem Briefe anzutreten. Und wirklich habe ich mich denn auch heute nicht getäuscht und bin durch den ersten lieben Gruß aus der fernen Heimath in dem fremden großen Neapel durch mein herziges Liebchen freudigst überrascht worden. Hab tausend Dank, Du bester, süßer Schatz, für Deinen lieben, lieben Brief, der mir in jeder Zeile die reiche, volle Liebe eines prächtigen Mädchens ausspricht, die mich so glücklich und reich macht. Daß Du Dich durch die Nachricht von der dummen Tante Voß über den vor Rom ermordeten Engländer so hast in Schrecken setzen lassen, ist mir sehr leid; wie sollte ich Dir aber darüber böse sein, mein liebstes Herz? Ich weiß ja selbst nur zu gut, wie das Herz, das so innig am Liebsten hängt, immer auch leicht zu viel für ihn fürchtet. So sehr grundlos ist übrigens die Furcht auch nicht gewesen, da jetzt wieder die Raub- und Mord-Anfälle im Kirchenstaat häufiger geworden sind. Erst nachträglich habe ich erfahren, daß es ein großes Wagniß war, in der Nacht allein und unbewaffnet nach dem Colosseum zu gehen und die in Rom erfahrenen Leute haben sehr meinen Leichtsinn darüber gescholten. Ich war noch ein zweites Mal allein beim Vollmond dort (übrigens nicht so schön und klar, wie das erste Mal) und hörte schon, als ich vom Capitol nach dem Forum herabstieg, von Ferne ein lautes Jammern und Hülferufen die Todtenstille der Nacht unterbrochen und als ich näher kam, begegnete mir ein französischer Soldat, dem soeben ein Italiener heimtückischerweise den 2 und 3ten Finger der rechten Hand abgehauen hatte, wahrscheinlich aus Rache. Hier in Neapel braucht man so etwas nicht zu fürchten. Die Neapolitaner haben schon gar nicht den Muth, die Kraft und Energie dazu, wie die Römer. Sie sind feige, und nur mit der Zunge verstehen sie zu prahlen und großzuthun, als wären sie die größten Helden. Die weiteren Excursionen mache ich auch nie ohne meine beiden großen Dolchmesser und ohne den trefflichen geologischen Stock, vor dessen Hammer sie hier entsetzlichen Respect haben, wie sie denn überhaupt die Gestalt des marodirenden „giovanetto grande biondo Tedesco“ immer mit gebührendem Erstaunen ansehen, besonders wenn ich noch dazu die Alpenschuhe anhabe. Sehr oft, wenn ich über die Straße gehe, höre ich aus einem beliebigen Hause heraus den Ruf: „Tedesco!“ Übrigens sind auch hier alle Straßen und Wege ungleich belebter und bevölkerter als in Rom, so daß ihr in dieser Beziehung nicht die geringste Angst zu haben braucht. Bitte, lieber Schatz, verbanne all die quälenden unnützen Sorgen.
[An Charlotte und Carl Gottlob Haeckel]
Liebe Eltern!
Herzlichsten Gruß an Euch Lieben Alle aus meiner neuen Behausung, wo ich im Angesicht des rauchenden Vesuv und des blauen Meers ganz nah am Strand sitze. Ich schicke diesen Brief unfrancirt, um zu sehen, wieviel er euch dort kostet. Der letzte, den mir Anna unfrancirt schickte, kostete hier 27 gran (9 Sgr), also grade soviel, als die von hier francirten. Wenn dieser euch auch ebensoviel kostet, so wird es besser sein, immer unfrancirt zu schicken, da es sich dann gleich bleibt. Wenn ihr francirt, schreibt darauf:
Franco fin a Napoli. Vergeßt das nicht. ||
Al Dottore Ernesto Haeckel
Prussiano.
S. Lucia 21, II pian.
in casa di Filippi.
Napoli (Italia)
via Marseille
franco fin a Napoli. ||
Wenn ihr den guten Martens seht, grüßt ihn herzlichst und dankt ihm schönstens für seine Empfehlungen, die mir bisher vom größten Nutzen waren. Ich schreibe ihm nächstens selbst. Ebenso grüßt auch Tante Weiß recht, ferner Tante Bertha, Tante Minchen etc. Fragt doch Tante Weiß, von welchem Punkte ihr wundervolles Panorama von Neapel aufgenommen ist. Schreibt mir nur ordentlich, wie die Taufe in Freienwalde war und was die Lieben alle machen. Nach Annas letztem Brief ist die Taufe heute oder gestern gewesen.
Ich habe dabei in der schönsten Natur geschwelgt. Munter und gesund bin ich hier, wie in Rom, immun! || Den lieben Freienwaldern die herzlichsten Grüße. Die Taufe ist nun wohl schon vorüber und ihr seid hoffentlich dort gewesen. Durch den nächsten Brief hoffe ich auch die Nachricht von Deiner völligen Genesung liebste Mutter, zu erhalten. Hoffentlich macht Dich der Frühling, der hier schon mehr Sommer ist, bald vollkommen gesund. Hier blühten schon bei meiner Ankunft die Rosen und Mittags scheint die Sonne so warm, dass ich den Rock ausziehe und in Hemdärmeln am offnen Fenster sitze. An deutscher Gesellschaft fehlt hier so wenig wie in Rom. Doch glaube ich nicht, daß ich mich so bald so heimisch hier fühlen werde, wenigstens nicht, ehe ich ordentlich arbeite.
a irrtüml.: werden; b gestr.: aus; c gestr.: nord; d gestr.: Ischia; e gestr.: b; f irrtüml.: das