Haeckel, Ernst

Ernst Haeckel an Charlotte und Carl Gottlob Haeckel, Genua, 4. Februar 1859

Genua 4.2. Abends 10 Uhr

Liebste Eltern!

Vor 1 Stunde bin ich denn wirklich endlich hier wohlbehalten angelangt. Ihr habt euch vielleicht schon etwas geängstigt, wenn in den Zeitungen etwas von den colossalen Schneefällen gestanden haben sollte, mit denen seit 3–4 Tagen der Winter hier plötzlich begonnen hat. Es ist wirklich ein sonderbares Zusammentreffen, daß ich grade an diesen beiden schneeigsten Tagen den Gotthardt passiren mußte. Alle Reisegefährten bedauerten mich und schimpften über das Unglück, während ich umgekehrt es für das größte Glück, ja für den einzigen großen Genuß halten muß, der mir bis jetzt auf der Reise vorgekommen ist. Vielleicht werdet ihr aus der ersten Hälfte der Beschreibung schon sehen, daß die ganze tolle Fahrt so recht „ein gefundenes Fressen“ für mich war, noch mehr aber wohl aus der zweiten, die nächster Tage nachkommen soll.

Ich möchte den Brief deßhalb nicht gern noch länger liegen lassen, weil ihr doch wahrscheinlich gerne Nachricht von meiner sichern Ankunft im schneelosen Süden haben wollen werdet. Seid also froh, daß ich die ganze Geschichte so gesund und munter bestanden habe. Stellenweis war die Tour wirklich etwas haarsträubend, und die Leute in Andermatt hatten nicht so unrecht, als sie meinten, wir könnten schon ein paar Messen zum Dank lesen lassen, wenn wir gesund hinüber kämen. Heute also nur kurz noch die Notiz, daß wir gestern (3.2.) früh 9 Uhr aus Andermatt ausrückten und nach 6stündiger Arbeit glücklich die Höhe des Gotthardtpasses, auf die man sonst 3 Stunden braucht, erklettert hatten. Nachmittag ging es dann wie im Fluge nach Airolo hinunter, von wo wir um 6 Uhr Abends weiter fuhren. ||

Heute früh 6 Uhr waren wir in Magadino, von wo wir im Dampfschiff nach Arona über den Lago maggiore fuhren. Um 12. aus Arona per Eisenbahn hieher nach Genua, wo ich zum ersten male von den Italienischen Schurken trotz aller Gegenanstrengungen tüchtig gerupft und ausgezogen worden bin (d. h. eigentlich nicht ich, sondern meine armen Napoleone!) Für die Beherbergung des Gepäcks mußte ich fast 1 rℓ zahlen, ebenso für ein jämmerliches Abendessen. Nun ich werde machen, daß ich baldmöglichst diesem Greifen Nest entrinne. Wahrscheinlich gehe ich schon morgen Abend mit dem Dampfer nach Livorno, übermorgen nach Florenz, von wo ihr weiter von mir hören werdet. Körperlich bekömmt mir die Reise mit ihren Strapazen vortrefflich; geistig habe ich bisher noch keine sehr erfreuliche Besserung gespürt, meistens fliegen meine Gedanken noch beim Vertiefen in die schönsten Genüsse alle Augenblicke nach Berlin und Steinspring hinüber. Im Ganzen ist mir in höchstem Grade ungemüthlich und unlustig zumuthe und ich merke recht, wie ich mich in den letzten Jahren verändert habe. Von der früheren jugendlich muthwilligen Reiselust habe ich bisher noch keine Spur wieder gefühlt und es sollte mich sehr wundern, wenn sie noch einmal wieder käme. Schon jetzt denke ich mehr an die Freuden der Rückkehr, als an die näher bevorstehenden der Reise. Wenigstens hat es das Gute, daß ich mir vorgenommen habe möglichst bald zu energischer Arbeit zu kommen, damit ich dann desto eher die Rückreise antreten kann. Ich schicke euch diesen Brief direct, liebe Eltern, weil ihr euch gewiß schon ängstigt. (Es ist übrigens dies der früheste Termin, an dem ich jetzt überhaupt schreiben konnte.) Schickt ihn aber unmittelbar sogleich an Anna nach Steinspring. Sie kann euch ja die Abschrift der Gotthardtreise zurückschicken. –

Annas Adresse ist: Rev. Förster Petersen ‒ a Forsthaus Steinspring in der Neumark.b

Den nächsten Brief schickt poste restante Florenz (Toscana)c

a gestr.: Steinspring bei; b Text weiter auf dem linken Seitenrand: Annas Adresse: … der Neumark; c Text weiter auf dem linken Rand von S. 1: Den nächsten Brief … Florenz (Toscana)

 

Letter metadata

Verfasser
Datierung
04.02.1859
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
A 39177
ID
39177