Ernst Haeckel an Charlotte Haeckel, Genua, 29. September 1877
Genua 29 Sept 77
Liebste Mutter!
Eben habe ich auf der Post Deinen lieben Brief und Carls Postkarte erhalten. Herzlichsten Dank dafür. Ich hoffe sehr, daß Du wieder ganz wohl bist und in Deinem neuen Quartier Dich recht behaglich fühlst. Von uns kann ich Dir melden, daß wir seit 3 Tagen in Italien und seitdem auch wieder ganz wohl sind. Bis dahin ging es uns nicht besonders. ||
Die 3 Tage in München waren höchst unruhig und aufreibend, besonders durch die Masse von alten und neuen Bekannten, die ich fand; dazu die vielfachen wissenschaftlichen Debatten und aufregenden Discussionen. Dazu war sehr schlechtes Wetter kalt und regnerisch, in der einen Nacht sogar Frost, so daß wir Beide uns – trotz aller Vorsicht, tüchtig erkälteten. Es war noch sehr gut, daß ich mich rasch zur schleunigen Abreise entschloß und auf alle Festlichkeiten verzichtete. Eigentlich sollte ich noch 4 Tage länger bleiben. ||
Unangenehme oder gar widrige Erlebnisse habe ich übrigens dabei gar nicht gehabt; auch keine Zusammenstöße mit meinen zahlreichen Gegnern. Im Gegentheil wurde ich mit Ehren aller Art überhäuft, fast zu Viel des Guten. Daß ich kein besonderes Vergnügen davon haben würde, wußte ich vorher; hielt es aber für meine Pflicht, bei dieser wichtigen und feierlichen Gelegenheit a für meine Sache einzutreten und an meinem Platze zu sein; bin auch jetzt recht zufrieden, daß ich mich nicht habe abschrecken lassen. ||
Schon auf der Fahrt über den Brenner und in Trient fühlten wir uns unwohl, und beschlossen zur Erholung mehrere Tage in Riva am Garda-See zu bleiben. Da wir uns hier ruhig hielten und faßteten, wurde der Magen besser und das Fieber verschwand wieder. So konnten wir denn 4 Tage später nach Verona fahren, wo wir 1½ Tage blieben, 1 Tag in Mailand. Gestern hier angekommen.
Agnes ist sehr entzückt von diesen drei Städten. Seit vorgestern haben wir das herrlichste wolkenlose warme Wetter.
Den Vortrag von Dr. Vogel über „Haeckel u. d. m. W.“ (in der Berl. phil. Ges.) besitze ich.b
a gestr.: ,; b Text weiter am linken Rand von S. 1: Den … ich.