Ernst Haeckel an Charlotte Haeckel, Ramsau, 19. September 1874

Ramsau bei Berchtesgaden

19 Sept. 74

Liebste Mutter!

Seit meinem letzten Briefe haben wir eine sehr genußreiche Woche verlebt. Nur am Sonntag (13. Sept.) hatten wir einen unaufhörlichen Regentag, den ich in Goisern dazu benutzte, die merkwürdige philosophische Bibliothek meines Freundes Conrad Deubler anzusehen und mit ihm zu plaudern. Er ist ein wahres Genie, und es ist sehr zu bedauern, daß er nicht unter günstigeren Verhältnissen sich entwickelt hat. Sehr amüsant waren die Gespräche mit ihm, ebenso aber auch mit den beiden, bei ihm einlogirten Wiener Familien, Prof. Simony und Prof. Grün, zwei fundamentalen Gegensätzen. Auch die letzten Correktur-Bogen zur II. Aufl. meiner Anthropogenie machte ich in Goisern fertig und schickte sie nach Leipzig. Die II. Aufl. soll schon Anfang October also nur 3 Wochen nach der ersten erscheinen! ||

Montag 14 Sept. war wieder schönes Wetter und ich machte mit Deubler einige Ausflüge in die nähere Umgebung von Goisern (Feuerbachs Ruhe, Prediger Stuhl, Soolenleitung); auch ein Aquarell des Krippensteins wurde angefertigt.

Dienstag 15 Sept. fuhren wir mit Deubler in einem Einspänner beim herrlichsten Wetter in 3a Stunden über den Gosauzwang nach Gosau, von dort zum Gosau See, einem der kleinsten aber schönsten Alpen Seen, der mir in besonders lieber Erinnerung ist. 1855 bestieg ich von da aus zum ersten Male eine Alpe (die Zwieselalpe). Der Dachstein und Thronstein mit dem Gosau Gletscher, die sich in dem spiegelklaren smaragdgrünen See spiegeln, geben ein herrliches Bild. Im See giebt es eine eigene Forellen-Art („Schwarzreiterlein“), die wir später beim Gosau-Schmied verspeisten. Die Rückfahrt Abends bei schönster Beleuchtung reizend. ||

Mittwoch 16 September Morgens verließen wir nach herzlichstem Abschied das reizende Bauernhaus Conrad Deublers und fuhren in einem Einspänner über Ischl durch das Weissenbach-Thal (mit schönem Wald und Bach) nach dem Dorfe Weissenbach am Kammer-See (oder Atter-See) dem größten der österreichischen Alpen-Seen (am nördlichen Fuße des Schafbergs). Mittags per Dampfboot in 2 Stunden über den See, nach dessen nördlichen, schon in die Ebene auslaufendem Gestade, wo Schloß Kammer liegt. Hier Mittag gegessen; dann per Post-Omnibus nach Station Voecklabruck an der Elisabeth Bahn. Von hier per Eisenbahn in 3 Stunden nach Salzburg zurück, meistens durch hübsche Voralpen-Gegenden mit vielen kleinen Städten und sauberen Dörfern belebt. Unsere Reisegesellschaft war ein höchst possirlicher Tiroler, der uns in der naivsten Weise auf die Schönheiten der flachen Landschaft aufmerksam machte. ||

Donnerstag 17. Sept. morgens 5 Uhr per Omnibus in 3 Stunden nach Berchtesgaden. Um 11 Uhr in das Salzbergwerk eingefahren, was Agnes vielen Spaß machte. Nachmittags wanderten wir nach dem herrlichen Königssee, den wir Abends bei schönster Beleuchtung genossen. Nach dem Hôtel zurückgekehrt fand ich beim Abendessen Prof. Alex. Braun aus Berlin, mit dem ich noch lange plauderte. Auch der Prager Philosoph Prof. Leonhardi (ein Ur-Stöpsel) saß dabei.

Freitag (8 Sept Vormittag besuchte ich Prof. v. Siebold aus München nebst Familie, welche mehrere Wochen in Berchtesgaden Sommerfrische hielten Nachmittag fuhren wir im Einspänner (eine Stunde für einen Gulden!!) nach der Ramsau, wo wir in dem neuen unterem Wirthshaus (an der Wimbach) ein recht nettes Zimmer zum Aufenthalt für mehrere Tage bekamen. Ich ging Abends noch in die Wimbach-Klamm. ||

Sonnabend 19. Sept 74 Morgens Wanderung nach der Wimbach Klamm, dann dort das öde einsame Wimbach-Thal hinauf nach dem Jägerhaus des Königs Max, weiter in die Felsenwildniß, welche östlich vom Watzmann, südlich vom Hundstod, westlich vom Hochkalter umschlossen wird. Nachmittags nach dem Hintersee. Herrliche Beleuchtung des hohen Göll und des Reiter-Alm-Gebirges.

Sonntag 20. Sept. Morgens beim herrlichsten Wetter allein auf dem Kunterweg (Kalvarienberg) nach der „großen Linde“ (13 Fuß Durchmesser der Stamm), dann ohne Führer auf den „todten Mann“ geklettert, den schönsten Aussichtspunkt in der Umgebung der Ramsau. In sehr heißer Mittagsgluth wieder herunter. Mittags kam der alte Siebold von Berchtesgaden herüber, mit dem wir den ganzen Nachmittag verplauderten. ||

Montag 21. Sept. Morgens mit Agnes nochmals in die Wimbach-Klamm zu den prächtigen Wasserfällen. Nachmittags allein zum Hintersee wo ich bei schönster Beleuchtung wieder einen herrlichen Abend genoß und ein Aquarell vom hohen Göll machte.

Dienstag 22. Sept. Morgens von der Ramsau abgereist. Im Einspänner über die Schwarzbachwacht und Jettenberg in 3 Stunden nach Reichenhall gefahren. Wilde enge Schlucht mit Wasserfällen und schönen rothen Mamorfelsen. Nachmittag in Reichenhall die Bäder angesehen und in der nächsten Umgebung spazieren gegangen. Schöner Abend.

Mittwoch 23./9 von Reichenhall nach München ( von 9–3 Uhr) gefahren. Sehr heiße Eisenbahnfahrt. Im Hôtel Max-Emanuel. Abends im Residenz-Theater Wilhelm Tell gesehen. ||

Donnerstag 24/9. In München. Vormittags in den neuen Pinakothek-Arcaden. Nachmittags in verschiedenen Läden etc und Kirchen (Basilica, Ludwigsk.).

Freitag 25/9. Morgens 6 Uhr fuhr Agnes mit dem Schnellzug von München direct nach Jena (wo sie Abends 9 Uhr ankommen sollte). Ich fuhr hingegen um 7 Uhr über Buchloë, Kempten, Immenstadt nach Lindau, wo ich Mittags 12 Uhr anlangte. In 2 Stunden über den Bodensee nach Constanz gefahren. Als ich eben anlangte, stiegen gerade Gegenbaur und Kuno Fischer aus Heidelberg auf ein anderes Schiff um eine Partie auf dem Untersee nach Arenaberg zu machen. Ich schloß mich ihnenb sofort an. Wir besichtigten das interessante Schloß Arenaberg, mit Portraits der ganzen napoleonischen Dynastie. ||

Sonnabend 26. Sept. Morgens per Dampfbootc mit Gegenbaur und Kuno Fischer von Constanz über den unterend Bodensee nach Meersburg, dann nach Ueberlingen, einem reizend am See gelegenen Badeorte. Nachmittags nach Uhldingen; von da per Boot nach Mainau, dem herrlichen Landsitze des Großherzogs von Baden. Abends über Meersburg zurück.

Sonntag 27. Sept. Vormittags die historischen Merkwürdigkeiten von Constanz besichtigt, Concils-Saal, Huß-Denkmal, Museum, Wasserbergs-Haus u.s.w. Mittags im See gebadet. Nachmittags per Dampfschiff von Constanz den Rhein hinauf nach Schaffhausen. Sehr schöner Abend.

Montag 28. Sept. Früh von Schaffhausen nach dem Rheinfall gegangen; Nachmittags per Bahn nach Waldshut (Apfelgarten; Rebstock) Abends nach Station Albbruck. ||

a korr. aus: 4; b korr aus: Ihnen; c eingef. mit Einfügungszeichen: per Dampfboot; d korr. aus: oberen

Brief Metadaten

ID
39035
Gattung
Brief ohne Umschlag
Entstehungsort
Ramsau
Entstehungsland aktuell
Österreich
Entstehungsland zeitgenössisch
Österreich-Ungarn
Datierung
19.09.1874
Sprache
Deutsch
Umfang Seiten
8
Umfang Blätter
4
Format
14,2 x 22,3 cm; 14,4 x 22,4 cm
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 39035
Zitiervorlage
Haeckel, Ernst an Haeckel, Charlotte; Ramsau; 19.09.1874; https://haeckel-briefwechsel-projekt.uni-jena.de/de/document/b_39035