Ernst Haeckel an Charlotte Haeckel, Mülheim an der Ruhr, 24. März 1876

Mühlheim a/d Ruhr 24/3 76

Liebe Mutter!

Gestern bin ich wohlbehalten hier angekommen und logire bei Finsterbusch, der mich freudschaftlichst und herzlichst empfing. Ich berichte kurz über die letzte Woche und bitte Dich, diesen Bericht gleich an Agnes nach Jena zu schicken.

Die vier Tage in Heidelberg, wo ich bei Gegenbaur wohnte, waren sehr angenehm. a Mittags und Abends war ich stets in Gesellschaft alter Freunde: bei Kuno Fischer (der höchst liebenswürdig war), bei Gegenbaur, Georg Quinke, Friedreich. Sonntag Mittag war bei Friedreich ein solennes Festessenb mir zu Ehren, wobei Frau Hof. Räthin Friedreich einen sehr || netten Trinkspruch in Knittelversen zum Besten gab. Montag 20. März fuhr ich früh von Heidelberg nach Baden-Baden, wo ich von Geh. Medicinalrath Wilhelmi am Bahnhof empfangen und von Dr. Richard Pohl im Hôtel begrüßt wurde. Der Vortrag (im c großen Saale des Conversationshauses) wurde hier mit großem Beifall aufgenommen.

Daran schloß sich ein ausgezeichnetes Festsouper, vom badischen Verein der Ärzte und Naturforscher in Baden veranstaltet, mit den obligaten Toasten und Festreden. Der Präsident überreichte mir einen Lorberkranz und sprach zugleich die Bitte aus, ich möge im nächsten Jahre einen ganzen Cyclus von Vorträgen halten (was ich natürlich nicht versprach!). ||

d Dienstage (21). Morgens reiste ich um 10 Uhr von Baden-Baden ab und war Abends 7 Uhr in Bonn (über Darmstadt, Mainz, Bingen, Coblenz). Ich suchte in Bonn (wo ich in Brauns Hôtel, nahe Bleeks früherer Wohnung, logirte) sogleich meinen alten Lehrer und Freund, Prof. Franz Leydig auf, der die von mir 1874 ausgeschlagene Lehrstelle in Bonn angenommen hatte. Ich hatte ihn zuletzt in Würzburg vor 20 Jahren (1856) gesehen und fand ihn im Ganzen, in seinem eigenthümlichen Wesen, unverändert, nur alt und grau geworden. Wir verplauderten einen sehr angenehmen Abend, theils mit alten Würzburger Erinnerungen, theils mit Discussionen über meine Bücher, theils mit Besprechung der ganz miserablen Bonner Univ. Verhältnisse. || Am andern Morgen (Mittwoch 22. März) lernte ich die betreffenden Verhältnisse aus eigener Anschauung kennen. Leydig führte mich in die neue Anatomie, welche Max Schultze, in seinen letzten Jahren ganz von Größenwahn beherrscht, ebenso glänzend und kostbar als unpraktisch und verkehrt eingerichtet hat. Alles, was ich sah und hörte, war mir höchst interessant und werthvoll, weil es mir (nach langem Hin- und Herschwanken) endlich die definitive Überzeugung gab, daß die Ablehnung der Bonner Berufung ein sehr kluger und richtiger Schritt war.

Ich würde vollständig vom Pferd auf den Esel gekommen sein! Leydig bereut es bitter, daß er von Tübingen nach Bonn gegangen ist und würde gern mit f Jena tauschen! Näheres und Einzelnes darüber mündlich! ||

II

Mittwoch Mittag 12 Uhr unter Kanonen-Donner (– es war Kaisers 80ster Geburtstag und die Stadt festlich geschmückt und beflaggt –) fuhr ich von Bonn nach Coeln und wurde von Dr. Overzier am Bahnhof empfangen. Er lud mich ein, bei ihm zu wohnen. Seine Frau eine echte Cölnerin; 3 muntere Kinder, die mich vielfach an die unsrigen erinnerten. Nachmittags im zoologischen Garten (der von Sturm und Überschwemmung sehr gelitten hat); darauf in der „Flora“ (Palmengarten). Abends hielt im naturwissenschaftlichen Verein Dr. Overzier einen Vortrag über meine Gastraea-Theorie, an welchen ich selbst einen freien Vortrag über mehrere wichtige Punkte derselben anknüpfte. || Dann wieder ein Festessen mit den üblichen Reden und Antworten. Unter den Anwesenden waren viele Notabilitäten von Cöln: Ärzte, Kaufleute, Beamte u. s. w. Nähere Bekanntschaft machte ich mit Dr. Kill (Stadtrath), Dr. Ernst Meitzen (einen Bruder von Carl’ Freunde, Chemiker und Dichter des „Bhamani“) Stadtrath Fay u. s. w. Erst nach 2 Uhr war das üppige Trinkgelage zu Ende. Donnerstag (23. März) verbrachte ich den ganzen Morgen mit genauer Besichtigung des Cölner Doms, in Gesellschaft von Dr. Overzier, Dr. Kill, Justizrath Fay, Stadtrath Holger; geführt vom Dombaumeister Voigtel, der uns Alles Einzelne, auch die Bau Werkstätten (Steinhauer-Laboratorium im größten Maßstabe) genau demonstrirte. || Donnerstag Mittag 2 Uhr fuhr ich von Cöln nach Düsseldorf, wo ich 2 sehr genußreiche Stunden in der Gemälde-Ausstellung zubrachte. Darauf nach Duisburg, wo ich mir in 1½ Stunden Stadt und Umgebung ansah, letztere noch größtentheils unter Wasser stehend, ein ungeheurer See. Abends 7 Uhr fuhr ich in ¼ Stunden hierher, nach Mühlheim, und fand bei meinem alten lieben Freunde Ludwig Finsterbusch die freundlichste Aufnahme. Er hat hier als Prorector der höhern Töchterschule und Oberlehrer an der Realschule eine sehr günstige Stellung. Von seinen 4g Kindern lebt nur noch Ernst, ein hübscher muntrer Knabe, 2 Monat älter als mein Walter. Die Wirthschaft führt Frl. Koll, eine Lehrerin. || Morgen (Sonnabend) früh fahre ich nach Dortmund, wo ich Abends Vortrag halte. Sonntag Morgen bin ich in Lippstadt bei Theodor. Mittag 12 Uhr fahre ich von da ab und bin Abends 9 Uhr in Potsdam. Ich hoffe Dich, liebste Mutter, recht wohl und munter zu finden.

Auf frohes Wiedersehen

Dein treuer Ernst.

Herzlichste Grüße an Carl etc

Schicke diesen Brief baldigst an Agnes.

Mittwoch werde ich in Berlin sein, Donnerstag nach Leipzig. –

Vielleicht wäre es gut, den Potsdamer Vortrag in einer Berliner Zeitung anzukündigen? ||

[Beilage:]

Trinkspruch

von

Frau Professorin Friedreich

zu Heidelberg.

am 19ten März 1876.

Es ist sehr schwer für Damen

Ohne berühmten Dichternamen,

In Versen etwas auszusprechen;

Klingt es doch fast wie ein Verbrechen.

Doch wählt man sich die Form der Knittel,

So ist gefunden auch das Mittel.

Bei ihnen zählt man nicht die Füße,

Ob sich der Reim auch tadeln ließe,

So mag‘ ich denn auf Ihre Nachsicht bauend

Den Kreis der Freunde überschauend,

Die Schüchternheit auch zu bezwingen

Und einen Trinkspruch auszubringen.

Nicht oft weilt unter uns der Mann,

(Den Name man errathen kann –)

Der auf des Geistes Forschungsbahn

So große Schritte hat gethan;

Der selbst im kleinsten Klümpchen Schleim

Entdeckte wahren Lebenskeim.

Nur daß er uns der Menschheit Ahnen

Zurückweist auf der Affen Bahnen ||

Dagegen möcht‘ ich protestiren,

Würd‘ ich auch den Praeß verlieren

Denn sehen wir uns Alle an,

So glaubt doch sicher Keiner dran.

Und trifft man wohl auch hie und da,

Gesichter, die den Affen nah,

So würden die sich auch sehr wehren,

Und diese Abkunft nicht begehren.

So lebt er wohl noch lange Zeit

Mit manchem Menschenkind im Streit;

Wir aber wollen ihn nur loben,

Das andre lassen dem da oben –

Und ehren ihn als lieben Freund,

Mit dem wir heute froh vereint.

Die Gläser laßt uns freudig heben,

Der Forscher Häckel soll hoch leben!

‒‒‒

a gestr.: Ich; b korr. aus: Je; c gestr.: Co; d gestr.: Mont; e eingef.: Dienstag; f gestr.: mir; g korr. aus: 3

Brief Metadaten

ID
38798
Gattung
Brief ohne Umschlag
Entstehungsort
Entstehungsland aktuell
Deutschland
Entstehungsland zeitgenössisch
Deutsches Reich
Datierung
24.03.1876
Sprache
Deutsch
Umfang Seiten
10
Umfang Blätter
5
Format
14,0 x 22,0 cm
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 38798
Beilagen
Blatt von fremder Hand mit Trinkspruch
Zitiervorlage
Haeckel, Ernst an Haeckel, Charlotte; Mülheim; 24.03.1876; https://haeckel-briefwechsel-projekt.uni-jena.de/de/document/b_38798