Ernst Haeckel an Charlotte und Carl Gottlob Haeckel, Merseburg, 12. November 1851

Merseburg, Dienstag 12/11 1851 Mittag

Liebe Ältern

eigentlich sollte mein heutiger Brief nur Vorwürfe enthalten, daß ihr mich so lange habt warten laßen; fast 14 Tage! Ich dachte wirklich ganz ernstlich bange, ob einem von euch was zugestoßen wäre, und wenn mich nicht heute um 12 Uhr als ich aus der Schule kam, Vaters und Mutters Briefe zugleich überrascht hätten so hätte ich auch ohnedieß einen Schelt-Brief an euch Ungetreue geschickt, die ihr in eurem Berliner Wohl-sein euren armen in den Merseburger Gefängnißen schmachtenden Jungen vergeßt. Wir haben ueberdieß jetzt auf einmal wieder recht viel zu thun gehabt. Gestern früh in der Schule, als die gewöhnlichen Lectionen statt finden sollten, trat auf einmal um 8 Uhr Osterwald in die Klasse, und verkündete uns einen sofort zu machenden 4stündigen deutschen Aufsatz, den er als a Vorarbeit zum deutschen Abiturientenaufsatz betrachten wolle, und um uns einen desto genauern Vorgeschmack hiervon zu geben, stellte er die 4 Themata, die Finsterbusch und seine Genossen bearbeitet hatten: 1) Göthe als Gelegenheitsdichter 2) Göthe und Schiller als Ergänzung 3) Klopstock, Lessing und Göthe im Verhältniß zur Antike und 4) eine Sentenz über den Menschen aus Herrmann u. Dorothea. Obgleich wir alle natürlich einen tüchtigen Schreck bekamen, so waren wir doch mit den Themata sehr zufrieden und wünschten uns zu Ostern gleiche. Die meisten bearbeiteten das 1te, ich allein das 3te, über das ich kurz zuvor etwas gelesen hatte, und was, wie ich glaube, ziemlich gut gelungen ist, da ich Lust dazu hatte und den Morgen grade ziemlich munter war. Ich schrieb einen Bogen ganz eng voll. || Sonntag (vorgestern) Abend ging ich „halb von freien Stücken!! zu Karos wo auch Kathens, Simons und Braunes waren. Es war recht hübsch. Lottchen Dewitz war glücklicherweise nicht da, und ich habe auch jetzt zu meiner großen Freude keine Stunde bei ihr gehabt, da sie fortwährend mit Frau v. Brauchitsch beschäftigt ist, der es übrigens außerordentlich gutb geht; auch der Junge ist sehr munter. Sonst weiß ich von hiesigen Neuigkeiten nur, daß Zech schon nächsten Sonntag mit Thecla Krosigk in größtem Pomp getraut wird, und daß sie sogleich dann nach Italien reisen. Daß das arme Italien auch alle langweiligen Leute geistreich machen soll! –

Sontag Mittag war ich bei Merkels, wo ich mit Hasenbraten und Apfelmus tractirt wurde und dann die 48 rℓ 17 Sgr von der Auction und die 2 rℓ 12 Sgr von dem Klingel pp. Verkauf erhielt; ich werde dies Geld außerordentlich gut verwenden können, denn: hört! hört!! Bekanntlich findet am 24sten die Linksche Bücherauction in Leipzig statt, wo die bis jetzt gröste botanische Bibliothek (11 000 Bände) versteigert wird. Da habe ich nun von den allerschönsten, wichtigsten und nothwendigsten Büchern (darunter auch Gervinus Literaturgeschichte) Auftrag an den Buchhändler gegeben, und zwar zusammen für c über 30 rℓ! Aber lacht nicht! und werdet auch vor allem nicht böse! Zur Beruhigung mag euch die Versicherung dienen, daß ich im günstigsten Fall höchstensd für 6-10 rℓ bekommen werde, und dies kann dann aus meiner Bücherkasse e bezahlt werden. Dabei wollte ich euch sagen, daß ihr zu Weihnachten ja nicht Berghaus Atlas kauft, da ich ihn vielleicht in dieser Auction bekomme, oder auch auf der Nees von Esenbeck‘schen, die im Februar stattfinden wird. Unter den angegebnen Büchern habe ich auch u. a. 8 rℓ! für Lindleis Orchideen angesetzt, die nur 83⅔ rℓ kosten. || Daß ich es für diesen Preis nicht kriege, ist so gut, wie gewiß. Es ist dies eins der herrlichsten f Prachtwerke und enthält colorirt die sämmtlichen bekannten Orchideen auf 50 feinsten Englischen Kupfertafeln in Folio maximo!! Ferner ist darunter eine geognostische Karte Deutschlands von Buch (neu 40 rℓ) für die ich 6 rℓ angesetzt habe und lauter andre klassische Sachen. Ich werde wohl nichts bekommen.

– Sontag, wo ich mich mit diesem Catalog abgab, hatte ich überhaupt einen sehr heitern Tag. Früh nahm ich die letzten Pflanzen aus der Presse, und führte letztere in die 3monatlichen Winterquartiere, aus denen auferstehend sie hoffentlich den Studenten begrüßen wird. Dann ging ich in deng Dom, wo ich von Simon eine ganz außerordentlich schöne, energisch-ergreifende, wirklich reformatorische Predigt hörte. h Bei jedem Wort liebe Mutter, dachte ich besonders an Dich, da es Dir wie aus der Seele gesprochen war. Der Text war: Bewahret euch die Freiheit, zu der Christus euch befreit hat und sinkt nicht wieder in die alte Knechtschaft (Evangelium Johannes). Die ganze Predigt war direct gegen das Papstthum und die katholische Kirche, besonders aber gegen diejenigen Protestanten (Pietisten und Ultramontanen) gerichtet, die dem Papst in die Hände arbeiteten. Simon führte sehr schön und wahr durch, wie diejenigen den Katholicismus beförderten, die die christliche Freiheit dadurch zu knechten suchten, daß sie strebten nach 1) der Herrschaft des Buchstabens und d des todten Gesetzeswortes, 2) nach einer äußerlichen Herrschaft bestimmter Menschen und Persönlichkeiten in der evangelischen Kirche 3) nach einem äußeren Schmuck, Prunk und Glanz der Kirche und insbesondre des feierlichen Gottesdienstes, des Gebetes, der Predigt, des Liedes u. s. w. || Besonders den dritten Theil führte er mit dem Eifer und der Entrüstung eines echt christlichen und deutschen Mannes durch, und zeigte aufs schönste, die so einfache, reine, edle Seele eines wahren Gottesknechts, der zum Dienst nicht bunten Schmuck brauche. Frobenius, der nicht weit von mir saß, mochte die Predigt wenig behagen; besonders zuckte er sehr mit den Achseln, als Simon von dem leeren, hohlen Wortgeklingel und Bilderspielen in der Predigt sprach, dasi kaum besser sei, als das gedankenlose Herplappern in den katholischen Kirchen, und daß man durch künstliche Musikstücke, festlichen Schmuck u. dergl. die „nackte“ Predigt einschränken wolle. Aber nicht nur mich hatte die herrliche Predigt, an deren Schluß er auf die schweren, drohenden Kämpfe hinwies und gegen sie ermuthigtej, aufs tiefste bewegt, auch Karos und Kathens waren entzückt davon und wir sagten ihm Abends alle zusammen herzlichen Dank dafür. Leider waren wegen des schlechten Wetters (es schneite zuerst ein wenig mit Regen; sonst haben wir noch keinen Schnee gehabt) wenig Leute in der Kirche. Dies schlechte Wetter hält mich auch in der Stube. Ich gehe sehr wenig aus. –

Der alte Henkel, der zur Linkschen Auction nach Leipzig reist und für einige 100 rℓ kaufen will, läßt Vater bestens grüßen, und fragt nach der Humboldtsmünze.

– Tante Sacks Tod hat mich sehr überrascht; was hat ihr denn gefehlt; nun wirds wohl große Erbschaftsgeschichten geben. – Ist denn Vetter Theodor durchs Examen gekommen und was und wo studirt er? – Ist Rüts jetzt in Berlin? – Was macht die liebe Tante Bertha. Ihr und Karl 1000 Grüße. Auch euch schicke ich k viele herzliche Grüße und Küsse mit. Bleibt recht gesund und schreibt recht bald wieder an euren treuen, alten Jungen

Ernst Haeckel. – ||

Dienstag Abends

Noch einmal, liebe Eltern, kann ich euch versichern, daß ihr euch über die 30 Thaler zur Bibliothek nicht die geringste Sorge zu machen braucht, indem ich von Lüben gehört habe, daß eine solche Unmasse Buchhändler und Bücherwürmer nach Leipzig kommen, daß wohl nicht daran zu denken sein wird, daß ich etwas bekomme; zumal da ich die meisten unter ⅓ des Werths angesetzt habe. Nur einige, die ich auch so ganz nothwendig haben wollte, habe ich höher angeschlagen z. B. Schleidens wissenschaftliche Botanik eine Flora Thüringens und eine geognostische Karte Thüringens v. Cotta (neu 8⅔ rℓ). Ferner ist auch Leopold v. Buchs geognostische Karte Deutschlands darunter, die neu 40 rℓ kostet, und viel andres klassisches mehr. Und wie gesagt, bedenkt meinen Atlasfond!

Gestern habe ich Herrn Gude auf sein Verlangen geschrieben und ihm die beiden ersten Bände meiner illustrirten Naturgeschichte, Vögel und Säugethiere geschickt, was er zur Herausgabe eines Lesebuchs benutzen will. Auch an Herrn Gandtner haben ich und Weiß geschrieben um einen Pflanzenaustausch zu beginnen.

a gestr.: als; b korr. aus: guht; c gestr.: g; d korr. aus: höchstensns; e gestr.: gek; f gestr.: Wei; g korr. aus: dem; h gestr.: Wer; i korr. aus: daß; j korr. aus: ermunthigte; k gestr.: ich; dann gestr.: wi

Brief Metadaten

ID
38741
Gattung
Brief ohne Umschlag
Entstehungsort
Entstehungsland aktuell
Deutschland
Entstehungsland zeitgenössisch
Preußische Provinz Sachsen
Datierung
12.11.1851
Sprache
Deutsch
Umfang Seiten
6
Umfang Blätter
3
Format
13,6 x 21,9 cm; ca. 14,0 x 19,0 cm
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
A 38741
Zitiervorlage
Haeckel, Ernst an Haeckel, Carl Gottlob; Haeckel Charlotte; Merseburg; 12.11.1851; https://haeckel-briefwechsel-projekt.uni-jena.de/de/document/b_38741