Mittwoch Mittag
Liebste Mutter!
Da ich bis jetzt gewartet habe, ob Christel noch Federvieh brächte, sie aber heute doch keins gekriegt hat, so schicke ich die Briefe so ab, damit der an Tante Bertha noch zu ihrem Geburtstag ankömmt und auch ihr nicht so lange ohne Nachricht seid.
Den Geburtstagsbrief bitte ich Dich Tante Bertha an ihrem Geburtstag mit den getrockneten Pflanzen zu übergeben, die Du für sie noch dort hast. – Mir geht es schon etwas besser, liebe Mutter, und obgleich ich noch recht viel trübe, sehnsuchtsvolle Stunden habe, in denen mir zu Muthe ist, als müßte ich gleich augenblicklich zu euch hinfliegen, so sehe ich doch ein, daß mein Hiersein in vieler Hinsicht recht gut ist. Ich arbeite viel beständiger, als zu Hause, wo ich immer den schönen Garten hatte, der mich ins Freie lockte; hier gucke ich höchstens zum Fenster hinaus. – Zu dem Stipendienzeugniß kann Vater doch wohl nur die eine wöchentliche lateinische Privatstunde bei Herrn Kollaboratora Goram zuzählen, da die Klavierstunde hier doch wohl nicht mitzählt. – Die Giesel bitte ich herzlich zu grüßen. Wozu ist sie denn in Berlin. – b Beim Friseur Naumann habe ich für die 3 noch übrigen Marken ½ rℓ bezahlt. – Die Berliner Bonbons schmecken mir ganz vortrefflich. Ich esse gewöhnlich nach Mittag eins, wenn ich Rindfleisch mit Kohl gegessen habe. Sie sind noch zu ⅔ vorhanden.
Die Osterwald ist vor ein paar Tagen nach Zörbig verreist.
Papa sage doch noch, wenn ihr einmal schickt, daß er mir ein paar interessante Zeitungen mitschickt. Mir ist noch gar keine zu Gesicht gekommen und man muß doch von Zeit zu Zeit wissen, wie es in der Welt aussieht. – Heute zu Königs Geburtstag haben Hetzer (über Albrecht Achilles) und Wiegner (über den Segen der Hohenzollern) Reden gehalten. Wiegners war schrecklich gesinnungstüchtig affectvoll und ¾ Stunden lang. Alles sehr erbaut.
Tausend Grüße auch besonders den treuen Geschwistern.
Ade Dein Ernst.
Hrn.
Oberregierungsrath Haeckel
zu
Berlin
Schifferstraße 6.
a korr. aus: Colllaborator; b gestr.: Die Marken