Ernst Haeckel an Carl Gottlob Haeckel, Merseburg, [15. Oktober 1851]

Merseburg, am Friedrich Wilhelm IV. Geburtstag.

Mein Lieber, lieber Papa!

Da ich 2 so nette Briefe von Dir erhalten habe, so muß ich Dir doch wohl einmal speciell antworten, obgleich alle meine Briefe an euch zusammen gerichtet sein sollen und ein jeder a vom (vierblättrigen? – Eleonore!) Häckelschen Kleeblatt sich herauslesen kann, was er will. Zunächst will ich Dich jetzt mit meiner Alltäglichkeit unterhalten. Früh stehen ich und mein Contubernalis Weiß nicht nach 6½ Uhr auf und mitb Anziehen Fußwickelnc u. dgl. wird bis 7 Uhr gedämmert, wo der (einem nicht allzustarken Tränklein von Runkelrübe, Cichorie, Mohrrübe allerdings sehr ähnliche) Kaffee kommt.

Wenn dieser echte Moccatrank d durch Qualität ersetzte, was er an Quantität besitzt, so wäre er vortrefflich zu nennen. Neben vorbenanntem Getränk liegt ein Gewächs, das fabelhaft einem Franzbrod im verjüngten Maaßstabe gleicht. Nach diesem Genusse arbeite ich noch bis 8 Uhr. Dann nehmen wir vereint um 9 Uhr jeder 2 gute Klappbutterstullen ein. Von 8–12 hören wir im Collegium die edlen Lehren der „wahren Logik und Latinität“ und daß:

„wer keine gute lateinische Arbeit macht, nicht selig werden kann“ (wie gestern der alte Wieck sagte, und dabei bemerkte, daß dies zwar paradox klinge, aber nichts desto weniger wahr sei). Um 12 Uhr wird zu Mittag gegessen und zwar meistens Rindfleisch mit irgendeiner Kohlart. (Kartoffeln werden selten gegessen, da sie sehr wässrig sind.) Hierauf folgt um 1 Uhr das Nachmittagsgetränk, das sich vom Frühtrank meist nur dadurch unterscheidet, daß es gewärmt und gekocht ist. || Von 2–3 Schule. Um 4 Uhr kommen wieder 2 Butterschnitten. Von 4–5 wird meist klaviergespielt. Um 5 Uhr im Dämmerlicht mach‘ ich Besorgungen, Bestellungen u. s. w. oder gehe ein wenig spazieren. Von 6–9 Uhr wird e stark geochst, was nur durch das Abendbrod, das meist in einer Suppe besteht, unterbrochen wird. Um 9 Uhr f bekomme ich ein schwaches Viertelstündchen, wo ich, wenn nicht beständig meine neckischen Kameraden oder eine Arbeit mich wach erhielteng, einschlafen würde (was zuweilen auch geschieht). Dann arbeite ich noch weiter bis 10, 10½, selten 11 Uhr, wo dann perpetuirlich bis 6 Uhr geschlafen wird. Was nun meine menschlichen Hausgenossen anbetrifft, so sind Osterwalds sehr freundlich, gemüthlich und nett, meine 3 Kameraden leidlich, der eine mehr, der andre weniger liebenswürdig. Unter die letztern möchte ich den Stubengenossen Weiß rechnen, der, ich mag anfangen was ich will, unerträglich hofmeistert, raisonnirt, aufpaßt und alles besser machen will, mit einer so trocknen, altklugen und hochweisen Miene, daß einem Angst und Bange wirkt. Vorzüglich geht er darauf hinaus, in allem zu widersprechen. Das Dienstmädchen ist sehr unordentlich und unreinlich, so daß ich die meisten kleinen Geschäfte selbst thun muß. Die magre Kost scheint mir übrigens gut zu bekommen, und obgleich ich die Rippen zu zählen anfange, so kommt mir doch mein durch Mutters Küche allzu wohl genährter cadaver ordentlich leichter und wohler vor. Besonders bekömmt mir das frühe Mittag und Abendessen. Übrigens habe ich mich kühn in den Strudel der menschlichen Gesellschaft gestürzt. Sonnabend war ich Mittags bei Karos, Nachmittags mit Osterwald und Karos in Wallendorf; Sonntag Mittag bei Merkels auf eine Gans, und abends bei Simons mit Karos und Triebels zusammen.

Mit den herzlichsten Grüßen und Küssen Dein alter treuer

Ernst Häckel.

agestr.: und ein jeder; b korr. aus: bei; c eingef.: Fußwickeln; d gestr.: an Q; e gestr.: nur; f gestr.: wen; g korr. aus: erhalten

Brief Metadaten

ID
38738
Gattung
Brief ohne Umschlag
Entstehungsort
Entstehungsland aktuell
Deutschland
Entstehungsland zeitgenössisch
Preußische Provinz Sachsen
Datierung
15.10.1851
Sprache
Deutsch
Umfang Seiten
2
Umfang Blätter
1
Format
14,4 x 23,2 cm
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
A 38738
Zitiervorlage
Haeckel, Ernst an Haeckel, Carl Gottlob; Merseburg; 15.10.1851; https://haeckel-briefwechsel-projekt.uni-jena.de/de/document/b_38738