Ernst Haeckel an Charlotte Haeckel, Jena, 29. Juni 1887
VILLA HAECKEL.
Jena, den 29 Juni 1887
Liebste beste Mutter!
Zu Deinem 88sten Geburtstage sende ich Dir vom ganzen Herzen meine besten kindlichen Grüße und herzlichsten Glückwünsche. Bei einem so hohen Alter kann man Dir ja nur wünschen, daß Du möglichst von den Leiden desselben verschont bleibst, und daß Dir Kraft genug erhalten bleibt, um dem Leben möglichst gute Seiten abzugewinnen! || Da ich Dir gerne zu Deinem Geburtstage irgend eine Freude machen und Dir zugleich in Deiner Einsamkeit eine angenehme Unterhaltung schaffen möchte, schicke ich Dir beifolgend einen Bilder-Atlas der Deutschen National-Litteratur von Könnecke welchen ich eigentlich Walter zu Weihnachten geschenkt hatte. Walter braucht ihn aber in diesem Jahre noch nicht; Du kannst ihn also vorläufig behalten. Wenn er Dir gefällt, behalte ihn ganz; ich kaufe dann für Walter ein anderes Exemplar. ||
Von unsern Kindern und von uns selbst kann ich Dir glücklicher Weise nur Gutes melden. Walter entwickelt sich immer vortheilhafter. Lisbeth fiel offenbar anfangs der strenge Zug in der Pension Bernhardt in Wiesbaden etwas schwer; es schadet ihr aber gar nicht, daß sie sich einmal tüchtig fügen lernen muß; im Übrigen schreibt sie recht vergnügt. Emma macht in der Schule jetzt bessere Fortschritte, ist aber sonst noch ziemlich eigensinnig und empfindlich. Agnes wird Dir morgen noch selbst schreiben; sie hatte im letzten Monat bei dem vielen Besuche mancherlei Unruhe. || Else Reimer, die nach der Abreise ihrer Mutter noch 4 Wochen bei uns blieb, reist morgen nach Berlin zurück. Marie hat sich recht gut mit ihr vertragen, obgleich Beide sehr verschieden sind. Ich habe bei dem schönen Juni-Wetter mit Beiden mehrere hübsche Spaziergänge gemacht. –
Vorgestern (Montag 27.) war ich in Dornburg zu Tafel bei Hofe, vorher war der Großherzog eine Stunde im Zoolog. Institute und betrachtete meine Orient-Skizzen und Sammlungen. –
Unser Garten ist herrlich und ich bedaure bloß, liebste Mutter, daß ich Dich nicht darin haben kann!
Mit besten Grüßen, auch an Carl und Tante Bertha, Dein treuer Sohn
Ernst Haeckel