Haeckel, Ernst

Ernst Haeckel an Charlotte und Carl Gottlob Haeckel, Villafranca, 30. März 1864

Villafranca 29. März 1864.

Liebe Eltern!

Die Osterwoche ist nun vorüber, für mich diesmal eine rechte Charwoche, in der ich sehr viel schwere und bittere Stunden für mich allein in meiner einsamen Klause durchgemacht habe. So willkommen mir hier die Ruhe und Einsamkeit nach dem dreiwöchentlichen unruhigen Umherreisen war, so ließ sie mich andererseits doch nur um soa tiefer und ungetheilter das unaussprechliche tiefe Leid empfinden, das mein ganzes Lebensglück nun für immer vernichtet hatb. In den ersten 3 Wochen ließen die vielerlei neuen und verschiedenen Eindrücke, der Umgang mit den verschiedenen Bekannten und der beständige Wechsel des Standquartiers mich noch nicht recht zu mir selber kommen. Um so mehr war das nun aber hier der Fall, wo ich ein vollständiges Einsiedlerleben führe, keinen Menschen zum Umgang habe und nur bei Tisch ein paar französische Worte mit meinen Tischgenossen wechsle. Da habe ich denn nun schon in diesen 8 Tagen rechte Zeit und Muße gehabt, mir die ganze Schwere und Bitterkeit meiner unseligen Existenz recht klar vorzustellen und mir die Grundlinien für das neue fremde Leben zu ziehen, das ich jetzt beginnen muß, ein Leben voll Entsagung und Arbeit, ohne Freude und Genuß, ohne Trost und Hoffnung, ein trauriges freudloses einsames Dasein! ||

Es wäre eine traurige und nutzlose Mühe, euch den tiefen, tiefen Schmerz zu schildern, der in diesen 8 Tagen mich beständig bewegt hat, das beständige Ringen zwischen der Pflicht, leben zu müssen und der völligen Unlust zum Leben und Dasein. Vielleicht wär mir diese traurige Osterwoche nicht so schwer geworden, wenn ich schon tüchtig hätte arbeiten können. Aber damit will es noch nicht recht gehen. Das frühere lebhafte Interesse an der Wissenschaft ist dahin, für immer verblichen und erkaltet, wie alle Lebensinteressen es für mich sind. Ich fühle mich so alt, so greisenhaft geworden, als könnte ich bald für immer diesem elenden Dasein Lebewohl sagen. Alles, was das Leben mir jetzt im besten Fall noch bieten kann, erscheint mir nur als ein schwacher farbloser Schatten, gegenüber den unendlich glücklichen 1½ Jahren, wo ich glücklich gelebt und geliebt habe. Am liebsten sitze ich jetzt hier auf den nackten wilden Klippen an der zerklüfteten Felsenküste und schaue in die brausenden Wogen, welche, vom Sturm herangeschleudert, hoch als weißer Schaum emporgewirbelt werden. Bei diesem unaufhörlichen Wirbel, bei dem donnernden Tosen der Brandung, ziehen dann alle die bunten schönen Bilder an meiner Seele vorüber, die das kurze Leben von 30 Jahren mir schon geboten hat. Das war auch für meine Anna einer der größten Genüsse, so stundenlang in das wildbewegte Meer zu schauen. ||

Ich hoffe immer noch eine Arbeit zu finden, die mich einiger maßen concentrirt und anzieht. Aber leider habe ich bei dem äußerst stürmischen Wetter der verflossenen 8 Tage fast noch gar kein Material auftreiben können. Das Wetter ist hier in diesem Jahre völlig verkehrt. Während die Zeit vom Februar bis April sonst hier die schönste Jahreszeit ist, wo es fast niemals regnet und Alles grünt und blüht, ist es dies Jahr hier ausnehmend kalt und rauh, und die Stürme und Regengüsse, die sonst regelmäßig im Oktober und November kommen, aber diesmal ausgeblieben sind, scheinen nun jetzt nachzukommen. Die Feiertage über hat es den ganzen Tag gestürmt und geregnet, und auch in der ganzen Charwoche verging kein Tag ohne Sturm und Regen. Da habe ich denn erst ein paarmal auf den Fang der kleinen pelagischen Thiere ausfahren können und nur einmal habe ich (das erste mal, am Dienstag) eine leidliche Ausbeute gehabt. Doch glaube ich, daß es mir, wenn erst besser Wetter kömmt, an Material nicht fehlen wird. Auch zum Landschaftsmalen bin ich bei diesem Wetter nicht viel gekommen, obwohl diese Beschäftigung mir jetzt noch am meisten zusagt. Ich kann dabei ungestört mich in die schöne Vergangenheit zurückträumen und in den Naturgenuß, den ich gemeinsam mit meiner Anna doppelt genoß. ||

Specielles von meinem Leben in dieser ersten Woche in Villafranca kann ich euch kaum melden; so einförmig und monoton ist ein Regentag nach dem andern verstrichen. Ich stehe regelmäßig schon um 5 ½ Uhr auf, wandre ½ Std. an den Felsen des Hafens umher und nehme dann in dem einzigen Caffé, der in dem kleinen Neste existirt, mein Frühstück ein. Dann suche ich mir Material zur Arbeit zwischen den Klippen der Brandung, oder fahre etwas in der Bucht umher, und versuche dann zu arbeiten. Um 11 U. nehme ich in der einzigen Restauration, die hier existirt, mein ziemlich dürftiges II Frühstück oder Mittag ein, gewöhnlich in Gesellschaft von 3 französischen Architekten, ganz netten Leuten, welche in dieses „Exil“, wie sie sich ausdrücken, commandirt sind, um den Bau des Tunnels zu leiten, der durch den Berg gebrochen wird, um die Eisenbahn von Nizza nach Genua über Villafranca zu führen. Mit denselben esse ich dann um 6 ½ oder 7 Uhr zu Abend oder Mittag. Dieses II Essen ist ziemlich eben so mager als das erste. Indessen werde ich doch satt. Den ganzen Nachmittag von 12-6 sitze ich entweder zu Haus und versuche zu mikroskopiren oder zu malen, oder ich schlendere gegen Abend am Meer umher. Größere Excursionen habe ich noch nicht gemacht, obwohl die sehr malerische und wilde Landschaft sehr dazu einladet. ||

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Doch nun noch etwas von der Herreise. Ich blieb in Mentone 4 ½ Tage, vom 12. Abends bis 17. März Mittags. Diese ganze Zeit bin ich in dem Gebirge umhergestrichen, das hier die seltsamsten Gegensätze unmittelbar neben einander zeigt. Überall am buchtigen Meeresstrande, der in verzweigten Thälern steil emporsteigt, bis zu 1500-2000 Fuß Höhe, die reichste, üppigste südliche Vegetation, die blühenstden Citronen- und Orangen- Gärten mit den fruchtbarsten Olivenwäldern wechselnd, Cactus, Palmen, Agaven, Mandeln etc in Menge; dagegen über 2000 Fuß, bis zu 5-6000, in den höheren Regionen der Seealpen, die nackteste, ödeste Gebirgswelt, die man sich denken kann, kein Baum, kein Strauch, kaum hier und da ein Moos oder eine Flechte zwischen dem nackten grauen Gestein, und darüber die lange glänzende Kette der weißen Schnee- und Eishörner im Hintergrund.

Dienstag 15. März, (grade 4 Wochen nach dem furchtbaren 16. Februar) habe ich ganz allein, ohne Führer, d einen 4600 Fuß hohen Gipfel dieser öden wilden Alpenwelt, deren Fuß von allen Reizen des Südens umgürtet ist, erstiegen, und bin den ganzen Tag, ohne einem menschlichen Wesen zu begegnen, in diesen höchst einsamen und wilden zerklüfteten Felsmassen umhergestiegen. Gegenüber solcher großen gewaltigen nackten Natur schmilzt das ganze Bewußtsein der eigenen Persönlichkeit zu einem so zwerghaften Schatten zusammen, daß das tiefste und bitterste Weh der eigenen Seele nur wie das Zucken der Schnecke erscheint, die ich am Wege zertrete, oder wie der kurze Todeskampf einer armen Stubenfliege die sich an der Lampe verbrannt hat. ||

Wie treffend sagt da wieder Faust:

„Den Göttern gleich ich nicht, zu tief wär das gefühlt,

dem Wurm gleich ich, der den Staub durchwühlt,

den, wie er sich vom Staube nährend lebt,

des Wanderers Tritt vernichtet und begräbt!“ –

So bin ich auch vor 4 Wochen im Staube zertreten worden! – Das Umherwandern in dem Gebirge von Mentone that mir sehr gut; ich habe dabei wieder tüchtige Strapazen nach alter Art durchgemacht, und die Schmerzen der heftigsten körperlichen Anstrengung bringen die klagende Seele zum Schweigen.

Montag 14. machte ich eine Excursion nach Roccabruna und Monaco. Donnerstag 17.e fuhr ich von Mentone nach Nizza. Das ganze Leben hier ekelte mich aber so an, daß ich möglichst rasch vonf hier nach dem stillen kleinen Villafranca zu kommen suchte. Da es hier aber keine eigentlichen Gasthäuser mit ordentlichen Zimmern giebt, so hätte ich beinah meinen Plan, mehrere Wochen hier zu bleiben, aufgeben müssen, wenn mir nicht die Güte meines alten botanischen Freundes, des Abbe Montolivo, dieses reizende kleine Asyl in dem Hause seines Bruders verschafft hätte. Hier lebe ich fast so einsam, wie in Capri. Vielleicht kommt das bange Herz hier etwas mehr zur Ruh. Vor allem wünsche ich mir jetzt stille See und gutes Wetter, um fischen zu können. Das Meer ist aber seit ein paar Tagen sehr wild. Überhaupt ist der Winter hier diesmal ganz abnorm. Während sonst Februar und März die schönsten und blumenreichsten Monate sind, ist dies Jahr in Folge der abnormen Kälte, wie sie seit mehr als 50 Jahren hier nicht gewesen ist, Alles sehr zurück. ||

Wenn nur erst die Frühlingssonne sich wieder Bahn bricht und Meer und Himmel sich wieder blau kleiden, denke ich, soll es besser mit der Stimmung und der Arbeit werden. Das melancholische Wetter ist jetzt meiner Grundstimmung zu conform. Auch ist die Existenz in der ungeheizten kalten Gartenstube etwas frostig, da das Thermometer sich meist zwischen 10 und 12° hält, ein Fall, der hier seit mehr als 50 Jahren im März nicht vorgekommen ist. Da kommt mir dann mein alter Pelz und die Filzstiefeln, die g in Messina mir so gute Dienste leisteten, sehr zu Statten. Das Leben ist hier übrigens billig (freilich auch sehr einem Fischerdorf entsprechend) gegenüber Nizza. Für die beiden Mahlzeiten zahle ich täglich 2 ½ francs, für das Frühstück ½ fr, für die beiden Gartenstuben 1 fr, zusammen also 4 fr (= 1 Rthl 2 Sgr). Dazu kommen dann noch nur sehr wenige kleine Auslagen besonders für das Barkenfahren, wofür ich pro Stunde1 fr ( 8 Sgr) zahle. In Nizza kann man jetzt nicht mehr unter 6-8 fr täglich existiren und hat dann noch nicht einmal so viel dafür.

‒ Schreibt mir recht bald. Ich sehne mich sehr nach Briefen von euch. Bis jetzt habe ich auf der ganzen Reise erst einen erhalten (den ersten nach Nizza gesandten). Gestern Abend ging ich speciell nach Nizza, um wieder auf der Post nachzufragen, aber leider wieder vergeblich. ||

Den Abend von 8-10 oder 11 Uhr sitze ich bei meinem kleinen trüben Lämpchen und hänge den noch trüberen Gedanken nach, da aus dem Schreiben oder Lesen, das ich mir gewöhnlich vornehme, meist nicht viel wird. Dann kommt die ersehnte Nachtruhe, welche mir jetzt der liebste Theil des Tages geworden ist. Ich schlafe allerdings meist ziemlich unruhig, träume aber gewöhnlich sehr lieb von meinem verschwundenen Glück. Meine Anna plaudert und kost mit mir im Traume gewöhnlich so lebhaft, daß ich oft beim Erwachen mich erst wieder besinnen muß, daß Alles nur ein Traum war und daß ich in die entsetzliche Öde des Lebens einsam und verlassen hinausgestoßen bin. Freilich packt mich dieses entsetzliche Gefühl dann immer noch mit demselben durch die ganze Seele gehenden bittern Schmerz, wie am ersten Tage. Aber ich kann es doch schon ruhiger tragen, da das Gefühl der Resignation, das Bewußtsein von der Nothwendigkeit einer völligen Entsagung doch von Tag zu Tag jetzt mehr vorherrschend wird. So schleicht denn ein Tag so öde und traurig hin wie der andere! Und doch fühle ich mich in dieser völligen Einsamkeit besser, als in Jena, auch weit besser, als ich mich in Nizza in dem Trouble der großen Welt fühlen würde. Dieser ist mir überaus zuwider. Ich mag keinen halben Tag mehr in Nizza sein. ||

Villafranca 30. März 64.

Ich habe mit dem Absenden des Briefs bis heute Morgen gewartet, weil ich heute vielleicht noch einen Brief von euch zu erhalten hoffte. Die Post hat mir aber leider keinen gebracht. Ich kann euch nun aber noch melden, daß heute Morgen sehr schönes, stilles und sonniges Wetter eingetreten ist und daß ich bei der Barkenfahrt eine sehr reiche Ausbeute an schönen und seltenen pelagischen Thieren gehabt habe, welche mich mehrere Tage hinreichend beschäftigen werden. Es scheinen auch mehrere neue Arten darunter zu sein. Hoffentlich wird es nun besser gehen. ||

Bitte schickt den Brief auch nach Landsberg und an Mutter Minchen. Theilt ihn auch Frau Weiß und den Tanten mit. Grüßt alle herzlich.

Euer armer Ernst.

Adressirt die nächsten Briefe:

Mr. le Professeur

Ernest Haeckel

à prèsent à Maison Montalivo

à Villefranche chez Niceh

(Nizza, France)

a eingef.: so; b korr. aus: hatte; c späterer egh. Vermerk Ernst Haeckels: 31. 3. 64; d gestr.: und; e korr. aus: 16.; f eingef.: von; g gestr.: ich; h korr. aus: Nizza.

 

Letter metadata

Verfasser
Datierung
30.03.1864
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 38573
ID
38573