Haeckel, Ernst

Ernst Haeckel an Charlotte und Carl Gottlob Haeckel, Villafranca, 21. März 1864

Villafranca bei Nizza 21/3 64.

Liebe Eltern!

Heut vor 3 Wochen nahm ich von euch in Apolda Abschied und erst heute bin ich an meinem eigentlichen Reiseziel zur Ruhe gelangt. Meinen letzten Brief schickte ich heut vor 8 Tagen aus Mentone an euch ab; hoffentlich habt ihr in erhalten. Ich erhielt die erste Nachricht von euch leider erst in Nizza; euren ersten, nach Genua adressirten Brief habe ich leider nicht erhalten, trotzdem ich 2 mal täglich nach gefragt habe. Wahrscheinlich ist der Name undeutlich geschrieben gewesen. Die nach Nizza adressirten Briefe werden mir hierher nachgeschickt. Die letzten 8 Tage ist es mir leidlich gegangen; das Mittelmeer, das ich so sehr liebe, hat einen Theil der heilsamen Wirkung, die ich hoffte, ausgeübt; ich bin sehr viel ruhiger geworden, und fange an, mich in mein unabänderliches Elend zu finden, wenngleich ich noch nicht weiß, wie ich es auf die Dauer tragen soll. Hier in Nizza und Villafranca, sowie auch schon vorher in Genua an der Riviera ponente, habe ich sehr viel Anknüpfungspunkte an das Jahr 1856 gefunden, wo ich mit Müller und Kölliker das erste Mal hier war. Damals kannte ich meine unvergleichliche Anna noch nicht; ich wußte noch nicht, was leben und lieben heißt – und nun kömmt mir diese ganze glückselige Zwischenzeit, wo ich gelebt und geliebt habe, nur wie ein kurzer, schöner Traum vor, und ich versuche mich in die Zeit vor 1858 zurückzuversetzen, wo ich noch in der Wissenschaft alles Glück zu finden vermeinte. ||

Euer lieber ausführlicher Brief, liebe Eltern, hat mir sehr wohl gethan; auch Carl danke ich herzlich für den seinigen. Deine Lebensanschauungen theile ich im Wesentlichen, lieber Vater, nur daß ich das menschliche Leben und die Menschen selbst noch weit geringer schätze als Du, und mein entsetzliches Schicksal hat mich in dieser Verachtung des Lebens nur noch bestärkt. Du sagst sehr richtig, daß bei nüchterner Betrachtung die meisten Menschen wie Narren in der Welt umherzulaufen und dem eitelsten Tand nachzujagen scheinen. Während wir aber in der Prämisse, in der Werthschätzung oder vielmehr Verachtung des menschlichen Lebens in seiner ganzen Nichtigkeit übereinstimmen, ziehen wir daraus entgegengesetzte Consequenzen; Du folgerst daraus, daß der Mensch zu einer höheren göttlichen Entwicklung bestimmt sei, während ich daraus den Schluß ziehe, daß aus einem so verfehlten und widerspruchsvollen Geschöpf, wie der Mensch, eine persönliche Fortentwicklung nach dem Tode nicht wahrscheinlich ist, wohl aber eine Fortentwicklung des Geschlechts im Großen und Ganzen, wie das schon aus der Darwinschen Theorie zu folgern ist. Das Individuum mit seiner kurzen persönlichen Existenz erscheint mir aber nur als ein vorübergehendes Glied in dieser großen Kette, als ein rasch vergängliches Nebelbild, aus dessen vorübergehender Thätigkeit im besten Falle einzelne Individuen einer nachfolgenden Generation Kraft und Nutzen für weitere Fortschritte ziehen. Die persönliche individuelle Existenz erscheint mir so entsetzlich elend, kleinlich und werthlos, daß ich sie für Nichts, als für die Vernichtung, bestimmt halte. ||

Mephisto sagt sehr richtig:

„Denn Alles, was entsteht,

ist werth, daß es zu Grunde geht!“

Das mögen Vielen schreckliche Ansichten erscheinen; allein eine nüchterne Betrachtung der ganzen Schwäche und Werthlosigkeit des menschlichen Lebens, der Eitelkeit aller menschlichen Bestrebungen, scheint mir mit Nothwendigkeit zu diesen Folgerungen hinzuführen. Doch darüber läßt sich mehr und besser mündlich als brieflich sagen. Ich habe inzwischen auf dieser Reise, wie auf allen früheren, wieder viel Gelegenheit gehabt, das menschliche Treiben und Trachten in seiner ganzen hohlen Nichtigkeit kennenzulernen, ganz besonders in Nizza jetzt, wo in den letzten Jahren der sinnloseste Übermuth und Luxus, die gräulichste und ausschweifendste Prasserei und das verächtlichste Großthun der so genannten „Elite der Gesellschaft“ einen Culminationspunkt erreicht hat, der vielleicht die bekannten Paradigmen der römischen Kaiserzeit übertrifft. Es ekelt mich an, euch die Belege dafür im Einzelnen aufzuzählen. Ich fühle mich ganz anders, seit ich gestern diesem tollen Treiben endlich entflohen bin und hier in dem stillen kleinen Hafenstädtchen durch einen günstigen Zufall ein Asyl gefunden habe, das wie für ein so krankes und bis auf den Grund vereinsamtes und verwundetes Gemüth geschaffen ist. Ich wohne nämlich hier ganz allein in einem kleinen Gartenhäuschen, das einem Marine- Arzt Montolivo gehört, in 2 sehr freundlichen kleinen Zimmern, deren Fenster in einen kleinen Orangen- und Citronen- Garten hinausgehen, in dem auch Granaten, Feigen etc stehen. || Die tiefste Stille und Einsamkeit umgiebt mich. Außer der Magd, die mir jeden Morgen einen Krug Wasser für den Tag bringt und das Bett macht und das Zimmer kehrt, kommt kein Mensch in diese kleine Einsiedelei, in der das liebliche Bild meiner Anna, wie ein Stern einer glücklichen Vergangenheit, mein einziger Gesellschafter ist. Die zwei täglichen Mahlzeiten nehme ich am Hafen unten in einem Kaffeehause ein. Und so hoffe ich denn hier zur Arbeit zu kommen und damit einen Schritt weiter zur Genesung zu thun, d.h. eigentlich nicht nur Genesung, sondern zu dem Beginn des neuen farblosen Lebens, in das mich ich mich jetzt muß finden lernen. Denn das wird mir immer klarer, je ruhiger ich von Tag zu Tag werde, daß meina bisheriges Leben abgeschlossen ist und daß ich, wenn ich überhaupt noch leben soll, ein ganz andres Leben anfangen muß, ein nüchternes kahles Arbeitsleben, voll Schmerz und Entsagung, und ohne den Blumenreiz, ohne die Phantasiefarben, die das bisherige so glücklich begleitet hatten. So hoffe ich denn, b daß ich in den nächsten 3 oder 4 Wochen hier mich wieder so weit sammeln und stählen werde, um Anfang Mai meine neue Vorlesung beginnen zu können. Den Rückweg werde ich möglichst kurz und direct nehmen, von Nizza per Dampfboot nach Marseille, von dort per Eisenbahn über Lyon nach Genf und über Heidelberg zurück. In Genf möchte ich gern noch einen Tag bleiben, um den armen Claparéde noch ein letztes Lebewohl zu sagen. ||

Vieles habe ich sowohl in Nizza als in Villafranca seit meiner Anwesenheit vor 8 Jahren sehr verändert gefunden. Seit einem Jahr führt eine prächtige neue Straße um das Vorgebirge Montblanc herum in 1 Stunde nach Villafranca. Der Hafen hier ist prächtig und für die pelagische Fischerei sehr günstig. Ich bin der erste Naturforscher, der in Villafranca selbst wohnt. Alle anderen früher wohnten in Nizza und beuteten von dorther den Hafen aus. Die Landschaft rings um den Hafen ist reizend schön. ||

Die nächsten Briefe, liebe Eltern, adressirt

Mr. le Professeur Ernest Haeckel

France

à présent à Casa Montolivo

à Villefranche prés de Nice

(Nizza) c

Schickt meinend Brief nach Landsberg und an Mutter Minchen. Grüßt die Freunde und Verwandten. Es küßt euch in Gedanken

euer armer Ernst

a korr. aus: es; b gestr.: ich; c gestr.: (Casa Montolivo); d korr. aus: den

 

Letter metadata

Verfasser
Datierung
21.03.1864
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 38572
ID
38572