Ernst Haeckel an Charlotte und Carl Gottlob Haeckel, Jena, 13. Februar 1865

Jena 13. 2. 65.

Liebste Eltern!

Ihr werdet in diesen schweren bittern Tagen mit euren Gedanken und eurer Liebe gewiß viel bei mir sein, und da ist es mir recht Bedürfniß, mit euch, wenn auch nur brieflich, mich etwas auszusprechen. Über meinen Zustand dürft ihr außer Sorge sein. Ich bin jetzt, am Ende des schrecklichen Lebensjahres, das mir mein ganzes Lebensglück genommen hat, ruhiger und fester, als ihr wohl denkt. Die heftigsten Ausbrüche des tiefsten Schmerzes, wie ich sie noch zu Weihnachten und zu Sylvester nicht unterdrücken konnte, haben allmählig nachgelassen und aufgehört, und obwohl die Tiefe des Schmerzes über den entsetzlichen Verlust noch ganz dieselbe ist und dieselbe bleiben wird, so habe ich ihn doch beherrschen gelernt und trage die schwere Last des Lebens fest und muthig, wie es dem Manne geziemt. Ja, ein Mann ist in diesem furchtbaren Jahre aus dem Kinde geworden, und die täglich sich wiederholenden Hammerschläge des unabwendbaren Geschickes, haben in mir den stählernen Charakter geschmiedet, der mir vorher so sehr fehlte. ||

Wie oft muß ich jetzt an die Sage von dem hart geschmiedeten Landgrafen denken, die mir meine Anna so oft vorlas, wenn ich zu weich und unentschlossen war. Werde hart! schloß sie dann immer mit einem neckischen Scherze. Diese Härtung ist nun eingetreten; aber sie, die sich am meisten darüber freuen würde, ist nicht mehr. Gegen die Stürme und Schicksalsschläge des Lebens bin ich nun gewappnet. Nachdem ich das Schrecklichste, das möglich war, erlebt habe und nachdem ich mich an die Entbehrung des Liebsten habe gewöhnen lernen, kann mir das weitere Leben nicht mehr viel anhaben, und ich sehe seiner ferneren Entwickelung mit einer Ruhe und Gleichgültigkeit entgegen, die ich früher nicht kannte. Daß mein Verlust ein ganz unersetzlichera ist, und daß nun mein ganzes, so schön und reich angelegtes Leben inb einer anderen Richtung sich entfalten muß, steht fest. Das Gemüthsleben wird nach und nach verkümmern und sich auf seine Kosten das Verstandesleben entwickeln, mit welchem ich der Wissenschaft und der || Entwickelung der Menschheit noch manchen wichtigen Dienst zu leisten hoffe. Wie seltsam es geht. Meine Lage ist jetzt grade so, wie ich sie mir als Ideal immer vorstellte, ehe ich das Glück der Liebe und die Freude des Ineinanderlebens der Gemüther kannte, wie es nur die Ehe giebt. Damals strebte ich immer nur danach, in einer freien Stellung, wie meine jetzige ist, lediglich der Wissenschaft leben und für sie thätig sein zu können. Dieser Wunsch ist nun erfüllt, nachdem ich das ungleich höhere Glück habec in seiner edelsten Form kennen gelernt, welches das Gemüthsleben der Liebe gewährt. Dieses Bessere ist mir genommen und das Gute ist mir geblieben. So werde ich mich denn an dieses halten und es ausnutzen, so gut es geht. Die Freude an der wissenschaftlichen Thätigkeit und das Bewußtsein, hier noch Tüchtiges leisten und den Fortschritt derd Erkenntniß fördern zu können, muß mein Trost und mein Lohn sein. Es trifft sich eigen, daß grade in dieser Zeit, wo die schmerzlichen Erinnerungen des verflossenen Jahres besonders lebhaft auftauchen, mir die || Wissenschaft, der mein Leben nun gewidmet ist, besonderen Lohn bieten zu wollen scheint. Nachdem ich neulich erst die höchst wunderbare Entdeckung der Allaeogenesis bei den Medusen gemacht, habe ich in diesen Tagen ein Problem e der theoretischen Zoologie gelöst, mit dem ich mich schon jahrelang getragen hatte, und welches einige der wichtigsten Grundfragen der Zoologie löst. Ich bin sehr zufrieden, daß ich wieder die Kraft und Fassung gewonnen habe, auch schwierigere philosophische Fragen im Zusammenhange zu bearbeiten. Selbst in den letzten acht Tagen, wo doch manche der traurigsten Erinnerungen besonders lebhaft wieder auftauchten, habe ich dazwischen doch recht ordentlich arbeiten können. Und das wird jedenfalls noch besser werden, nachdem nun das schwere 31ste Lebensjahr endlich zum Abschluß gekommen. Seid also unbekümmert um mich, liebste Eltern. Ich habe die Kraft und den Willen, zu leben und zu arbeiten, wieder gewonnen, und mein treuer brüderlicher Freund und Schicksalsgenosse Gegenbaur, unterstützt mich in dieser Beziehung aufs Beste. Seit aufs Innigste gegrüßt und geküßt von eurem treuen

Ernst||

Dir, liebe Mutter, noch einen besonders herzlichen Gruß und die Versicherung, daß ich die gewonnene Kraft und Ruhe auch am 16. Februar bewahren werde. Ich werde den ganzen Tag bei Gegenbaur verleben; wenn auch Manches an dem Tage besonders schmerzlich ist, so bleibt mein Unglück im Ganzen doch alle Tage dasselbe und ich habe mich damit nun so vertraut gemacht, daß ich meinen Schmerz beherrschen kann. Ich erwarte und wünsche, daß Du nicht herkommst, einestheils weil ich nicht möchte, daß Vater an dem Tag ohne Dich ist, anderntheils, weil ich glaube, daß wir uns gegenseitig || weniger trösten, als vielmehr unnütz weich f machen und aufregen würden. Das Zusammensein mit meinem Schicksalsgenossen Gegenbaur, der sein Leid jetzt auch stark und kräftig trägt, wird das Beste sein.

Ich freue mich sehr, euch zu Ostern wieder zu sehen. Hoffentlich geht es Dir, lieber Vater, fortdauernd so gut, wie mir euer letzter Brief meldete.

Grüßt die Landsberger herzlich, ebenso die Tanten, Frau Weiß und Barth.

Nochmals herzlichsten Gruß von

eurem Ernst.

a korr. aus: unert; b eingef.: in; c korr. aus: haben; d korr. aus: des; e gestr.: gelöst; f gestr.: und.

Brief Metadaten

ID
38545
Gattung
Brief ohne Umschlag
Entstehungsort
Entstehungsland aktuell
Deutschland
Datierung
13.02.1865
Sprache
Deutsch
Umfang Seiten
6
Umfang Blätter
3
Format
13,7 x 22,0 cm; 11,1 x 17,2 cm
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 38545
Zitiervorlage
Haeckel, Ernst an Haeckel, Carl Gottlob; Haeckel, Charlotte; Jena; 13.02.1865; https://haeckel-briefwechsel-projekt.uni-jena.de/de/document/b_38545