Ernst Haeckel an Charlotte und Carl Gottlob Haeckel, Jena, 10. März 1863

Jena 10/3 63.

Liebe Eltern!

Eure lieben Briefe haben wir nebst der Sendung von Südfrüchten erhalten, und sagen euch dafür schönsten Dank, namentlich für die Apfelsinen und Feigen, die uns vortrefflich geschmeckt haben. Deine Mittheilungen über Politica, lieber Vater, haben mich sehr interessirt. Doch sehe ich die Sachen nicht so schwarz an, wie Du. Ich glaube im Gegentheil daß unsere freiheitliche Entwicklung durch Nichts besser gefördert werden könnte, als durch die freche Unverschämtheit, mit welcher dieses Ministerium vor aller Welt Augen das gute Recht des Landes mit Füßen tritt. Jetzt muß es auch dem Dümmsten klar werden, daß nur in einer ganz freisinnig ausgebauten Verfassung für uns noch Heil zu hoffen ist. In einem großen Theil des Preußischen Volks wurde die offen freie Entwicklung des demokratischen Sinnes a noch sehr gehemmt durch einen entsetzlichen Grad von specifisch- preußischer Loyalität gegen die Fürsten. Dieser Loyale Sinn wird jetzt durch die erbärmliche Schwäche, Geistlosigkeit und Starrköpfigkeit Wilhelms des Dummen den Leuten gründlich ausgetrieben. || Außerdem geht es auch überall sonst so mächtig vorwärts, daß eine lange Dauer dieses unnatürlichen Verhältnisses ganz unmöglich ist. Außer dem Königthum wird auch der specifische Gothaismus, wie er in Herrn von Vinke repräsentirt ist, bei den Kammerdebatten gründlich an den Pranger gestellt. Vinke ist doch ein rechter Junker im Grunde seines Herzens. Allerdings ist er nun auch so isolirt, daß er fast alles Gewicht verloren hat. Wir lesen jetzt hier außer Volks- und National- Z. täglich auch die Magdeburger Zeitung, welche sehr gut redigirt ist.

‒ Deinen Aufsatz über Gneisenau, lieber Vater, habe ich mit großem Interesse gelesen und mich dabei besonders gefreut, daß Du Herrn v. Müffling verdientermaßen zurechtgewiesen hast. Außer den preuß. lese ich jetzt hier auch die „Deutschen Jahrbücher“ welche vortreffliche Aufsätze, meistens von Mitgliedern der Fortschritts- Partei, enthalten. Ich hoffe, Du wirst Dich nun endlich auch mit der Fortschrittspartei ausgesöhnt haben, da sie sich fortdauernd ebenso besonnen als fest benimmt. ||

Ich schicke euch beifolgend unter Kreuzband eine Recension meines Radiolarien- Werkes vonb Prof. Keferstein in Göttingen und bitte euch, sie auch Georg Reimer zur Ansicht zu schicken. – Dich, liebe Mutter, bitte ich, 14 (vierzehn) Thaler an Buchhändler W. Weber Französische Straße 41, am Gensdarmen Markt zu schicken, für Band 6-9 von Köllikers und Siebolds Zeitschrift, die ich von ihm erhalten habe. Laß Dir aber über die Bezahlung der 14 rl eine Quittung ausstellen und schreibe sie mir an. –

‒ Die Taufe in Freienwalde muß ja nach eurer Beschreibung recht nett gewesen sein. Es freut mich, daß mein Pathchen ein so muntres Kind ist. Verwöhnt nur die Kinder, die ihr jetzt dort habt, nicht gar zu sehr. Namentlich bitte ich Dich, liebe Mutter, ihnen den Magen nicht durch Überfütterung allzu sehr zu verderben. –

‒ Einliegende Briefe an Helene und an Tante Elise bitte ich zu besorgen. ||

Wir freuen uns schon sehr auf euren Besuch und sprechen viel davon, wie sehr es euch hier gefallen wird, liebste Eltern. Der Frühling wird hier jetzt schon recht mächtig und lockt eine Menge Blumen aus der Erde. Im Thale blühen schon zahlreich Anemonen und Veilchen.

In einigen Wochen werden wir nun in unserer definitive Wohnung, 1 Treppe höher, ziehen, wo die Aussicht noch bedeutend schöner, als unten, sein wird. Nächsten Freitag schließe ich meine Vorlesungen. Die 6 Wochen Osterferien, für die ich schon mehrere Arbeiten begonnen habe, werden mir sehr gut thun, da ich einstheils die vielen Vorlesungen dieses Winters, anderntheils die Masse Gesellschaften, die ich habe durchmachen müssen, gründlich satt bin. – Grüßt die Verwandten und Freunde schön und habt nochmals schönen Dank für eure Sendung

von eurem alten

Ernst.

a gestr.: d; b korr. aus: um;

Brief Metadaten

ID
38426
Gattung
Brief ohne Umschlag
Entstehungsort
Entstehungsland aktuell
Deutschland
Datierung
10.03.1863
Umfang Seiten
4
Umfang Blätter
2
Format
14,0 x 22,1 cm
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 38426
Zitiervorlage
Haeckel, Ernst an Haeckel, Carl Gottlob; Haeckel, Charlotte; Jena; 10.03.1863; https://haeckel-briefwechsel-projekt.uni-jena.de/de/document/b_38426