Ernst Haeckel an Anna Sethe, Jena, 23. März 1862
Jena 23.3.62.
Was gäbe ich darum, liebster Schatz, wenn dies der letzte Brief wäre, den ich aus Jena an Dich schriebe, und wenn das Briefschreiben schon nächsten Sommer überflüssig wäre. Ich fürchte aber sehr, daß das nicht der Fall ist und muß Dich dringend bitten, Dich auch diesmal auf Resignation unserer liebsten Hoffnung gefaßt zu machen. So aussichtslos, wie seit ein paar Tagen, ist mir die Zukunft lange nicht erschienen, und wer weiß, ob wir nicht noch warten müssen, bis es einer anderen Universität gefällt, den Radiolarien-Autor mit einer Professur zu beschenken. Vor Dir meine Muth- und Hoffnungslosigkeit sogleich zu erklären, Folgendes: Kurz bevor Bezold abreiste, hatte er noch mit Seebeck gesprochen und sagte mir, daß meine Ernennung wohl deßhalb nicht vor den Ferien geschehen würde, weil in denselben zugleich mit mir noch 2 andere ältere Privatdocenten der Medicinischen Facultät (Schillbach‒ Chirurg und Siebert‒ pathologischer Anatom) Extraordinarii werden sollten. Die Ernennung dieser Beiden ist nun vorgestern erfolgt; gleichzeitig ist auch Gerhard zum Ordinarius und definitiven Director der Klinik ernannt worden; von mir scheint aber gar nicht ernstlich die Rede gewesen zu sein. || Gegenbaur beobachtet absolutes Stillschweigen, ist sehr verdrießlich und scheint absichtlich jede entfernte Andeutung auf mein Schicksal zu vermeiden. Er reist übrigens in den nächsten Tagen ab.
Wie sehr mich Alles dies herabgestimmt und betrübt hat, kannst Du denken und ich bin heute, am zweiten Ferien-Sonntag, so niedergeschlagen, daß ich Dir am liebsten gar nicht schreiben möchte. Ich denke aber, es ist besser, Du erfährst die Niederlage unserer Hoffnungen sogleich, als daß Du Dich noch länger mit schönen Luftschlösschen täuschest, die doch schließlich hoffnungslos zusammenstürzen. Ich fürchte, daß man an den maßgebenden Orten mich noch für zu jung hält und für zu kurze Zeit erst habilitirt; und will wohl viel ältere Privatdocenten, an denen es nicht fehlt, nicht zurücksetzen. Ich vermuthe, daß Gegenbaurs und Seebecks vereinte Anstrengungen gegenüber den Machinationen Anderer nicht durchgedrungen sind, und daß mindestens in dem nächsten halben Jahre, bevor das Buch ganz heraus ist, keine Hoffnung mehr auf Erfüllung unsers Wunsches noch andre ist. Wenigstens könnte ich mir sonst die gegenwärtige Sachlage durchaus nicht erklären. ||
Das einzige Gute, was also all dies vergebliche Hoffen und Sehnen schließlich gehabt hat, ist höchstens, daß wir beide heißblütige ungeduldige Naturen gründlich in Geduld und Ruhe geübt werden, und daß wir lernen, mit unbedingtem Mißtrauen alle auch noch so sicheren Versprechungen aufzunehmen, wenn die Erfüllung nicht schwarz auf weiß daneben steht. Man kann wirklich nicht skeptisch genug sein! Denn mit welcher Sicherheit sind mir nicht die zuverlässigsten Versprechungen immer wiederholt worden, und zwar von Leuten, denen ich das vollste Vertrauen schenkte. Geht das Gelingen des Planes nun auch wieder ihren Wunsch fehl, so lernt man daraus eben doch nur immer mehr, wie nothwendig im Verkehr mit den Menschen die mißtrauischste Vorsicht ist. Ich vermuthe übrigens, daß Bezold und Gegenbaur diese Enttäuschung nicht minder unangenehm als mir sein wird, da ihnen selbst wirklich an dem Gelingen des Planes sehr viel lag. Ich bin sehr neugierig, ob Gegenbaur sich noch vor seiner Abreise darüber aussprechen wird. Für und beide bleibt freilich in allen Fällen Nichts übriges, als wieder vom Neuen ins Blaue hinein zu hoffen und uns eine neue Portion Geduld anzuschaffen, die wenigstens für den Sommer ausreichen muß. ||
Um nun den traurigen Enttäuschungsbrief doch nicht ohne jeden Lichtschimmer abgehen zu lassen, will ich Dir schließlich wenigstens die eine Freudenbotschaft melden, daß in der heute beginnenden Woche das Radiolarien-Werk wirklich fertig wird. Doch werde ich bis Ende der Woche noch stark daran zu arbeitena haben und dann noch ein paar Tage mit dem Einschließen der microskopischen Praeparate zu thun haben, so daß ich wohl b nicht mehr im März, sondern in den ersten Tagen April zu Dir komme, jedenfalls erst Anfang nächster Woche. Du wirst also vorher noch einen Brief bekommen, welcher auch den Termin der Ankunft melden wird. Daß die endliche Vollendung des großen Werkes, das mich nun seit 2½ Jahren fast ganz alleinc beschäftigt, ein großer lichter Trost-Strahl in der trüben Dunkel unserer Zunkunft-Ungewißheit ist, kannst Du denken und ich glaube wirklich nicht allzu viel zu speculiren, wenn ich hoffe, daß ich auf Grund der Radiolarien doch bald anderswo eine Professur bekommen werde, selbst wenn hier Alles mißlingt. Also laß Dir wenigstens den Gedanken an diesen glücklichen Schluß der großen Arbeit den Schmerz über die nächste Erfolglosigkeit derselben etwas versüßen!
d Ich schließe heut, liebster Schatz, weil ich doch nur traurige Gedanken habe. e Herzlichen Dank für Deinen sehr lieben letzten Brief und schreibe mir recht bald f wieder einen so lieben. Schönen Gruß an die Alten und Dank für Vaters Brief. g Mit innigstem Gruß und Kuß Dein treuer, lieber Erni.
a gestr.: gehörig; eingef.: arbeiten; b gestr.: erst; c eingef.: allein; d weiter am Rand v. S. 4: Ich schließe heut…traurige Gedanken habe.; e weiter am Rand v. S. 3: Herzlichen Dank für…mir recht bald.; f weiter am Rand v. S. 2: wieder einen so…für Vaters Brief.; g weiter am Rand v. S. 1: Mit innigstem Gruß…treuer, lieber Erni.