Haeckel, Ernst

Ernst Haeckel an Anna Sethe, Jena, 16. März 1862

Jena 16.3.62.

Der erste Gruß in den heute beginnenden Oster-Ferien (meinen ersten ‒ und jedenfalls zugleich den letzten Osterferien a als Privatdocent) soll Dir gelten, mein liebster, bester Schatz! Es ist zugleich der Gruß einer stillen Sonntag-Frühe, in der ich Dich, mein besseres Theil, immer ganz besonders entbehre! Meine Haupt-Sonntags-Freude habe ich allerdings schon gestern im Voraus genossen, wo ich Deinen lieben Brief erhielt. Die etwas gedrückte Stimmung darin, in Folge des Sinkens unsers Hoffnungs-Barometers, kann ich leider durch meine heutige Antwort nicht in die Höhe bringen. Je näher der entscheidende Zeitpunkt rückt, desto unwahrscheinlicher wird mir die baldige Erfüllung unserer heißester Hoffnungen und Wünsche. Von der entscheidenden Seite, von Seebeck ist auch noch nicht die leiseste Andeutung gefallen, und auch Gegenbaur beobachtet absolutes Stillschweigen, so daß mein Muth immer mehr und mehr sinkt. Im günstigsten Falle rechne ich jetzt nur noch auf eine Entscheidung am Ende der Oster-Ferien, und dannb wird es doch zu spät sein, um noch vor Beginn des c Sommer-Semesters zu heirathen. Vielleicht ließe es sich dann noch in den Pfingstferien thun. Doch sind diese so kurz, daß es dann am Ende besser ist, bis zum August zu warten, besonders weil ich im Sommer || sehr viel zu thun haben werde.

Ich lese nicht weniger, als drei neue Collegia, darunter 2 anatomische welche meine Zeit so in Anspruch nehmen werden, daß am Ende für mein kleines Frauchen gar Nichts übrig bliebe. Ich rahte Dir also, Dich schon jetzt an den Gedanken zu gewöhnen, daß wir noch 5 Monate getrennt sein werden, so schwer uns Beiden auch dies traurige Muß werden wird. Der Gedanke, den Sommer noch ohne Dich hier zuzubringen, ist mir so traurig, daß ich gar nicht weiter davon schreiben mag. Deine Ansichten wegen Wohnung-Miethen verstehe ich nicht. Die Sachlage ist einfach folgende. Da ich meine Wohnung im Herbste nicht gekündigt habe, so kann ich sie erst am 1 April kündigen, und werde dies auch jedenfalls thun. Doch muß ich natürlich die Miethe für nächsten Sommer unter allen Umständen bezahlen (20 ₰) sobald sich nicht Jemand findet, der das Quartier auf dem Fleck bezieht. Was aber das Miethen einer anderen Wohnung für den Sommer für uns Beide betrifft, so wäre es thöricht, schon jetzt, bei dem schwachen Schimmer unserer Hoffnungen, eine solche zu miethen. Deine Furcht, daß || Andere uns ein gutes Sommer-Quartier wegnehmen könnten, ist ganz unbegründet. Denn wer jetzt zum Sommer umzieht, hat schon längst sein bestimmtes Ziel. Außerdem ist grade jetzt ein für Jena seltener Überfluß an Wohnungen, indem nicht weniger, als 5 Familien fortziehen.

Unterkommen würden wir d also im Falle der Erfüllung unserer Wünsche jedenfalls finden. Die Ziegelei ist übrigens so überaus reizend, daß ich schon den Gedanken gehabt habe, selbst für den unwahrscheinlichen Fall, daß wir noch vor Ostern heiratheten, das Quartier als „Sommer-Palais“ oder Villa (außer der eigentlichen Wohnung) jedenfalls zu behalten. Es würde sich schließlich nur darum handeln, ob die Alten oder Mutter uns die 20 ₰ Miethe schenken würden.

Du glaubst nicht, wie reizend der neu belebte, grünende und von Liederklang der Vögel e tönende Prinzessinen-Garten in den letzten 8 Tagen war, wo die Sonne so herrlich und warm, wie im Juni schien. Der Gedanke, dies kleine Paradies nicht mir Dir theilen zu können, ist jedenfalls sehr bitter. Nach dem ersten April könnte ich mich allerdings nach einer Wohnung für den Herbst umsehen, obwohl auch dann noch immer im Sommer Zeit genug sein würde. ||

Wenn wir erst im August heirathen, so brauchen wir ohnehin erst im Oktober an ein Winterquartier zu denken, da wir doch den September verreisen würden. ‒

f Vorgestern, Freitag, habe ich nun meine letzte Vorlesung im Winter-Semester gehalten und damit das erste Jahr meiner akademischen Laufbahn beschlossen. Ich kann allerdings für den glücklichen Erfolg nicht dankbar genug sein, während die Zuhörer im Sommer an den schönen Nachmittagen von 4 ‒ 5 viel schwänzten, so waren sie dagegen im Winter von 12 ‒ 1 so fleißig, erst immer 5 ‒ 6, oft auch alle 7 Studenten, zugegen waren, und fast sämmtlich in großen Heften meine zoologische Weisheit nachschrieben. Mit dem freien Vortrag geht es auch schon viel besser, so daß ich wirklich in dieser Beziehung getrost in die Zukunft sehen kann, doch fürchte ich mich etwas vor dem Sommer, wo ich michg wieder in einen neuen Stoff und in eine neue Behandlung desselben hineinarbeiten muß. Das Schwierigste ist aber jedenfalls bei unserer Laufbahn der Anfang, und dieser ist ja glücklich genug überstanden. Also auch weiterhin Glückauf! ||

Den März werde ich nun wohl noch ganz hierbleiben, um das Radiolarien-buch, das mir allmählich ordentlich verhaßt wird, ganz zu Ende zu bringen. In 14 Tagen werde ich hoffentlich ganz damit fertig sein. Die Muße der Ferien kommt mir dabei trefflich zu statten. Meine Bekannten reisen meist schon in den nächsten Tagen fort, so daß ich dann ganz solissimo sein werde. ‒

Die Politik interessirt mich, wie Du denken kannst, auf das lebhafteste. Die eben so erbärmliche und gemeine, als dumme und verkehrte Politik des Königs und der traurigen Minister bei Auflösung der II Kammer hat mich außerordentlich gefreut; denn wirklich konnten sie der Volkssache keinen größeren Dienst leisten, als sie so mit Füßen treten, wo das Recht so sonnenklar am Tage liegt. Die Regierung wird auch einstimmig von allen ausländischen Blättern verurtheilt. Ich freue mich schon auf die nächste Kammer, die natürlich viel demokratischer wird. ‒

Vater sollte sich doch von Ostern an wieder die National Zeitung h oder die i ganz vortreffliche Frankfurter „Zeit“ halten; und dafür das traurige Heul- und Jammer-Blatt von J. Schmidt aufgeben. Was soll bei dieser traurigen Halbheit herauskommen.

j Du fragst, was ich dazu sage, daß Du am Sonntag getanzt hast? Ich finde das ganz in der Ordnung, und würde es thöricht finden, Dir ein solches Vergnügen etwa zu untersagen.

Wie Du weißt, beruht unser ganzer „Vertrag“ (so zu sagen ‒ sit venia verbo!) auf gegenseitiger Duldung, und ich werde Dir stets die vollste Freiheit lassen, Alles zu thun, was nicht gradezu Unrecht ist, wie ich auch von Dir diese Toleranz fordere. Also tanze, soviel Du Lust hast!

Auf Mutters Anfrage wegen der Hemden antworte, daß mir breite Falten lieber als schmale sind. Wegen des Übrigen, namentlich der Kragen, die nicht recht passen, muß sie sich gedulden, bis ich in 14 Tagen k komme. Wegen des Vortrags über Capri u. Ischia muß ich Dir doch noch sagen, daß er wirklich bei der Majorität mißfallen hat, so daß nur sehr Wenige, wie Seebeck, Schleiden, Haase, Bezold, sich davon einigermaßen befriedigt gefunden haben.

Mit herzlichem Gruß und Kuß Dein treuer Erni

a gestr.: letzten; b eingef.: dann; c gestr.: Oste; d gestr.: allerdings; e gestr.: belebte; f gestr.: Den; g eingef.: mich; hgestr.: und; i gestr.: F; j weiter am Rand v. S. 5: Du fragest, was…in 14 Tagen; k weiter am oberen Rand v. S. 5: komme. Wegen des…befriedigt gefunden haben!

 

Briefdaten

Verfasser
Empfänger
Datierung
16.03.1862
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
A 38406
ID
38406