Haeckel, Ernst

Ernst Haeckel an Anna Sethe, Jena, 10. März 1862

Jena 10.3.62.

Ich habe mit Beantwortung Deines lieben herzigen Briefes gewartet, mein bestes, süßestes Liebchen, weil ich gestern Abends bei Seebecks war, und im Stillen gehofft hatte, Dir irgend eine hoffnungsvolle Äußerung überbringen zu können. Indeß ist keine solche gefallen und Du mußt also mit diesem Briefe auch so vorlieb nehmen. Seebecks waren übrigens sehr freundlich und lassen Dich schönstens grüßen. Frau Seebeck will Ende März nach Berlin kommen, und Dich dann auch besuchen.

Seebeck hat sonderbarer weise gegen mich direct auch noch keine Andeutung einer baldigen Erfüllung unsers heißesten Wunsches fallen lassen, so daß mir wirklich fast könnte bange werden. Doch will er wahrscheinlich Nichts vorher sagen und uns dann mit dem ganzen vollen Glück überraschen. Jedoch kann ich nicht leugnen, daß in Folge dessen sich immer etwas Furcht in die süßen Hoffnungsbilder mischt, die mich alltäglich und allstündlich umgaukeln. Obwohl ich über die baldige Erfüllung wirklich ziemlich sicher bin, so fürchte ich anderseits doch, daß die Ferien noch darüber hingehen, und wenn die Ernennung erst Anfang des nächsten Semesters erfolgen sollte, so könnten wir doch erst nach Ende des Sommersemesters heirathen, ein Gedanke, der mir gar nicht recht in den Kopf will. Wenigstens möchte ich dann den nächsten Sommer lieber ganz aus einem Leben streichen. Besonders peinlich ist mir auch der Mangel jedes bestimmten Gehalts || deßhalb, weil ich natürlich ohne solchen nicht an Aufgaben der jetzigen Wohnung und Miethen einer neuen denken kann; schon aus dem Grunde geht dies nicht, weil, wenn ich heute Abend eine Wohnung miethe, morgen früh ganz Jena weiß, daß ich heirathen will; und dann könnte eine heimliche Reaction alles Glück vereiteln. Ich muß also, so lange die Entscheidung noch nicht da ist, ruhig in der Ziegelei bleiben, und werde jedenfalls bis Ende März hier bleiben. Ist bis zum 1 April Nichts erfolgt, so muß ich wohl oder übel das Quartier noch für den Sommer behalten. In dieser Zeit hoffe ich übrigens das Manuscript völlig zu Ende zu bringen, so daß ich a Anfang April meinem süßen Schatz ganz frei und frisch ans Herz fliegen und mich in seinen lieben Armen von der 2½ jährigen ununterbrochenen Radiolarien-Arbeit verdientermaßen erholen kann. Wie ich mich auf diese süßeste Belohnung freue, brauche ich Dir nicht zu sagen; selbst wenn, was ich fast fürchte, der Doctor H. noch zu Dir kommt. Viel lieber käm’ er eigentlich als Professor, was Du ihm am Ende wohl glauben wirst? Wünschen wir liebster Schatz, daß Alles sich baldigst entscheidet, aber hoffe nicht zu sicher schon auf den Mai! ||

Die Sehnsucht nach meinem süßen Liebchen hat jetzt wieder einen neuen Sporn durch das reizende Frühlingswetter erhalten, das seit 4 Tagen hier mit wahrhaft überraschendem Glanze und einer wahren Juni-Temperatur b eingezogen ist. Der ganze Prinzessinen-Garten wimmelt und tönt von kleinen lustigen Singvögeln und der Gedanke, diese reizende Nachbarschaft vielleicht bald aufgeben zu müssen, könnte mir schwer werden, wenn ich nicht wüßte, daß ich dann dafür ein Vögelchen c in mein Nest bekomme, daß viel reizender, lieber und herziger ist, als alle die kleinen bunten befiederten Sänger zusammen genommen! Kennst Du wohl diesen reizenden Wundervogel? Hoffentlich genießt er das schöne Frühlingswetter auch so, wie sein Erni, der gestern zur Sonntagsfeier (dem letzten im Wintersemester!) mit Gegenbaur, Dr. Stern und Dr. Naumann einen ganz prächtigen dreistündigen Spaziergang durch den Forst gemacht hat. Die Sonne schien so warm, der Himmel war so blau und c die ganze Frühlingslandschaft so wundervoll farbig, daß ich eine ganz merkwürdige Leere an meiner rechten Seite fühlte, wo ich gar zu gern ein gewisses kleines Gewicht hängen gehabt und den Daxen-Berg hinaufgezogen hätte! Ganz besonders prachtvoll war die Abendbeleuchtung, wo die Kernberge und der Jenzig in wahrem Goldpurpur glühten! Merkwürdiger weise fehlte mir aber immer noch die Hauptsache! ||

– Die Jenenser Winter-Saison hat nun auch ihr glorreiches Ende erreicht; nur eine Woche noch zu lesen (noch 5 Stunden!), dann habe ich redlich bis zum officiellen Schluß des Semesters ausgehalten. (15 März!) Heute ist das letzte Konvent, was ich ohne Schmerz schreibe, da ich kein einziges den ganzen Winter angehört habe. Das einzige, woran ich Theil genommen von Winter-Vergnügungen, waren die 12 Rosen-Vorlesungen (zum Besten einer Reiter-Statue von Schiller), die ich sämmtlich angehört habe, mit Ausnahme zweier französischer von einem Mr. Gaberet, Erzieher des Erbgroßherzogs, meines d zukünftigen Landesherrn, der jetzt Jena mit seiner Anwesenheit beglückt. Da in diesen Rosen-Vorlesungen, die Mittwoch Abends von 7 – 8 Uhr gehalten werden (im Rosensaale, dem größten Locale Jenas) allem Geist und Witz an das gemischte Publikum, das wenigstens zur Hälfte aus denen besteht, verschwendet wird, den die Leute überhaupt aufzutreiben wissen, so muß ich Dir wohl eine Übersicht der Reihe der Vorlesungen geben, die diesen Winter das Jenenser Publikum entzückten. Ohne weitläufige Kritik zu üben, werde ich den Eindruck, den mir jede Vorlesung hinterlassen hat, durch Striche bezeichnen, und zwar gut mit III, mittelmäßig mit II, schlecht mit I. ||

Rosenvorlesungen zu Jena im Winter 1862.

1) Klopfleisch (Kunsthistoriker, mein Turnfreund und Mitbräutigam) über: „Die Todtentage im Mittelalter“ II – (im Ganzen nicht übermäßig geistreich, aber mit zahlreichen Volksliedern gewürzt, z.B. Scheibel-Schabel-Klapperstorch – und über deren Bedeutung!)

2) Dr. Frank (Lizentiat der Theologie) „über eine Jenenser Geisterbeschwörung“ II – (Tod mehrerer hiesiger Studenten, die im Anfang vorigen Jahrhunderts eine Geisterbeschwörung hier ausführten, durch Kohlendampf)

3) Schleiden „f über Schlaf und Traum III – ausgezeichnet geistreich und witzig, obwohl nicht immer ganz scharf

4) Bezold „über das Leben der Nerven“ III – vortrefflich, viel populärer, als ich von ihm geglaubt hatte

5, 6) Gaberel, 2 französische Vorträge über den protestantischen Adel in Frankreich, konnte ich mich, theils aus Abneigung gegen den Autor, theils gegen den Stoff, nicht zu hören entschließen.

7) Langethal (Prof. der Botanik für Land- und Forst-Wirthe) „über den Wald“ II– Recht nett und herzlich gut gemeint, aber ein bischen sehr prosaisch und matt;

8) Forstlage (Prof. der Philosophie) über „den Instinct“ I g – sehr mäßig, ja eigentlich ganz erbärmlich, so fades und abgeschmacktes Zeug, als überhaupt nur ein Philosoph über Thiere vorbringen kann. Fast die schlechteste Vorlesung, nur von 12 noch übertroffen. ||

9. Hildebrandt (neu berufener Professor der Nationalökonomie) „über die historischen Grundlagen der National-Ökonomie“ III – ganz vorzüglich! Diese gefiel mir bei weitem am besten von allen, selbst besser, als Schleiden und Bezold – Schilderung der Entwicklung des Verkehrs und Handels – mit den 3 Stadien des Tauschhandels, Geldhandels und Credithandels

10. 11. Prof. Adolf Schmidt (Historiker, Droysens Nachfolger) „über die wahre Geschichte des Don Karlos“ III – sehr gut, schon wegen des Stoffes sehr interessant.

12. Dr. Ernst Haeckel (ein junger Privatdocent der Zoologie und vergleichenden Anatomie) „über Capri und Ischia“ I – die schlechteste von allen, – schon aus dem Grunde, weil fast gar nicht von Menschen, sondern wesentlich von Meer, Felsen, h Pflanzen und Thieren die Rede war! – Man wußte nicht recht, sollte es naturwissenschaftliche Beschreibung oder phantastische Fiction sein, wirklich traurig! Übrigens waren die 4 letzten Vorlesungen, sowie die von i Bezold und Schleiden, die besuchtesten von allen, viel besuchter, als die 6 übrigen. Ich schätze die Anzahl der Zuhörer in den 4 letzten Vorlesungen auf 200 – 300, j darunter die größere Hälfte Damen und vielleicht 50 – 60 Studenten. ‒

(N.B. Die letzte Vorlesung wurde am Aschermittwoch gehalten.) ||

Einen besonderen Kuß und Gruß noch für den lieben letzten Brief, mein süßes Herz. Schreib bald wieder Deinem treuen Erni.k

a gestr.: Ende; b gestr.: hier; c kei; d gestr.: s; e gestr.: t; f gestr.: ); g verb. aus: III; h gestr.: und; i gestr.: Xxxxxxx (unleserlich); j gestr.: dafür; k Text weiter am oberen Rand von S. 4: Einen besonderen Kuß … Deinem tr. Erni.

 

Letter metadata

Verfasser
Empfänger
Datierung
10.03.1862
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
A 38405
ID
38405