Ernst Haeckel an Anna Sethe, Jena, 16. Februar 1862

Jena 16.2.1862.

Das erste Wort im neuen Jahre muß doch wieder Dir gelten, mein lieber, süßer Schatz, Du mein Liebstes und Bestes auf der Welt, für das ganze Leben! Wie lieb hast Du mich heute wieder überrascht und mit Gaben Deiner reichen köstlichen Liebe erfreut. Die Geburtstags-schachtel kam grade zur rechten Zeit heute früh an, als ich eben an mein einsames Frühstück mich setzen wollte, und der Inhalt derselben, namentlich der schöne Kuchen, mußte denn gleich dienen, mir die Einsamkeit desselben zu versüßen. Er schmeckt wirklich prächtig und wenn er auch durch Deine (mir ganz neue!) Ungeduld an schöner Form etwas eingebüßt hat, so ist dadurch doch sein gastronomischer Werth nicht im Mindesten beeinträchtigt, besonders bei einem so „formlosen“ Wesen, wie Dein herzlieber Schatz leider ist. Ich glaube wirklich, daß die Liebe, mit der Du ihn für mich gebacken, auf die treffliche Kuchen-Qualität Einfluß gehabt hat; so prächtig schmeckt er mir! Viel mehr Freude hatte ich freilich noch an dem reizenden braunen Notizbuch, welches so recht nach meinem Geschmack ist, und auf dem unser specielles Liebes-Emblem, Eiche und Epheu, mich gar zu sehr erfreut haben. ||

Jena 17.2.62.

So weit war ich gestern Abend gekommen, liebster Schatz! als ich beschloß, mich ein Augenblickchen erst auf dem Sopha von dem starken einstündigen Spaziergang auszuruhen, von dem ich eben erst heimgekommen war! Aus dem Augenblickchen wurden aber ein paar Stunden; so gewaltig schwer hatte sich gleich Morpheus auf die müden Augenlider gelegt. Heute habe ich denn zum Antritt des neuen Jahres ein mal recht tüchtig ausgeschlafen und schreibe nun mit doppelter Frische an meinen lieben Schatz weiter. Zunächst muß ich Dir nun erzählena, wie ich den gestrigen Tag noch gefeiert habe ‒ wenn man das nämlich eine Feier nennen kann, wo der liebste beste Gegenstand fehlt!! Fast der ganze Vormittag des Geburtstages ging mit süßer Änni-Träumerei hin. Zunächst beschäftigte mich lebhaft Dein gar zu lieber Geburtstagsbrief, der bei jedem neuen Lesen mir eine neue liebe Seite meines herzigen Schatzes ins Gedächtniß rief. Was für Ideen mich da vorwiegend bewegten, brauche ich Dir nicht erst zu sagen, vor Allen das innigste Glücksgefühl in dem Bewußtsein, den liebsten, besten Schatz von der Welt zu besitzen, dann ein herzliches Dankgefühl gegen das Schicksal des verflossenen Jahres, welches uns zwar nicht bis ganz an das Ende unsres Ziels, aber demselben doch noch so viel, viel näher gebracht hat. || Wenn Du Dich erinnerst, liebster Schatz, mit welcher Bangigkeit wir noch heute vorm Jahre der fernen Zukunft ins Gesicht sahen, wie schwer der Beginn der akademischen Laufbahn (sicher der schwerste von allen Anfängen!), wie dunkel und unsicher die ganze nächste Zukunft vor uns lag, so wirst Du ganz mit mir, Dich darüber freuen, wie glücklich alle diese Schwierigkeiten überwunden sind. Recht inniges stilles Dankgefühl durchzog heute und gestern all mein Denken, wenn ich mir klar machte, wie schön jetzt Alles für mich zum herrlichsten, glücklichsten Leben vorbereitet ist! Um meine Änni-Wonne zu erhöhen, holte ich mir ihre lieben, lieben Lieder und die herzigen Briefe hervor, die sie mir in die italienische Verbannung geschrieben; dann sah ich wieder ihr liebes kleines Bild an, das gestern besonders viel Küsse hat aushalten müssen! So verging denn der ganze Vormittag des neuen Jahres in den süßesten Glücks- und Liebes-Gedanken und Nachmittag hatte ich auch noch recht Zeit, dieselben weiter auszuspinnen. Schon am Samstag hatte ich mit Gegenbaur und Gerhardt einen größeren Spaziergang verabredet; und beim frischesten schönsten Winterwetter führten wir ihn dann am 16. Nachmittag aus: Wir machten die große uns noch unbekannte Tour, welche wir im Sommer immer projektirt hatten, ohne sie jemals auszuführen: das sogenannte Hufeisen, ein überaus herrlicher Waldweg, welcher auf dem Gipfel des Genzig beginnt und in großem hufeisenförmigen Bogen nach der Kunitzburg hinüber führt. Trotzdem wir starken Schritt gingen, hatten wir zur ganzen Tour doch 4 volle Stunden nöthig. || Der ganze Weg bis zur Kunitzburg führt auf der Höhe der Berge hin und bietet eine Fülle der schönsten Aussichten in verschiedene Thäler, die im Sommer ganz reizend sein müssen. Fast den ganzen Weg ging ich so gut wie allein, da meine Freunde in medicinische Gespräche vertieft ein gut Stück zurückblieben und so hatte ich den ganzen Weg in Gedanken die reizendste liebste Begleiterin, ein gewisses kleines Frauchen mit blauen, treuen Augen und blondem Haar, das immer neben mit hersprang und mich frug, ob es wohl ein glückseligeres junges Ehepaar geben könnte, was ich dann trotz meiner Zweifelsucht aufs entschiedenste verneinen mußte.

So hast Du mir denn durch Dich selbst wieder gestern das glücklichste Gefühl bescheert, Dich zu besitzen, Du liebe kleine Seele, die Du immer so lieb, wahr und natürlich bleiben mußt, um Deinen treuen Erni zum glücklichsten Manne zu machen. ‒

Je näher der Schluß des Semesters rückt, mit desto größerer Spannung und Sehnsucht sehe ich der Entscheidung entgegen; indessenb bin ich trotz aller Hoffnung immer noch darauf gefaßt, daß wir uns doch am Ende noch ½ Jahr gedulden müssen; freilich würde mir der nächste Sommer ohne Dich gar zu schwer werden; lieber wollte ich ganz auf denselben verzichten! Nun, die nächsten Wochen müssen uns ja doch die endliche Entscheidung bringen. ||

Je länger ich hier noch allein existire, desto lebhafter wird die Sehnsucht nach der Vereinigung mit Dir lieben Seele, welche mir die Ruhe und den Frieden bleibend bringen muß, den ich ohne Dich nicht finden kann. Wie anders wird mir meine ganze Existenz erscheinen, darf ich erst immer und ganz mit Dir zusammen sein, mit Dir, die mich ganz kennt und versteht, während ich von den andern Leuten fast nur nach einer oder der andern Seite hin mißverstanden werde. Diese Gedanken sind mir besonders in der letzten Zeit täglich wieder mit besonderer Lebhaftigkeit vor die Seele getreten. Einen rechten Gemüths-Umgang habe ich unter meinen hiesigen Freunden doch gar nicht. Am nächsten stehe ich immer noch Bezold, der aber wieder zu verschiedene Interessen hat. Mit Gegenbaur werde ich bei seiner furchtbaren Schroffheit und Einseitigkeit wohl nie auf einen warmen Fuß (der bei ihm überhaupt nicht möglich ist) gelangen. In den letzten Wochen sind wir mehreremal hart aneinander gerathen, da er nicht nur entschiedener Großdeutscher ist und für ein östreichisches oder bairisches Deutschland schwärmt, || sondern mich ‒ zu meiner wirklichen Überraschung ‒ in politischer Beziehung entschieden illiberale, um nicht zu sagen ‒ reactionäre ‒ Ansichten hat, bei seiner sonstigen Freisinnigkeit mir unbegreiflich. Gerhardt ist nun vollends ganz in diesen Ansichten verrannt, haßt Preußen, wie Alles Norddeutsche, aufs Grimmigste (natürlich ohne es zu kennen!) und da Bezold, der sonst auf meiner Seite steht, in den letzten 14 Tagen im Bett lag, so haben die unvermeidlichen politischen Tischgespräche unsre gegenseitigen Beziehungen grade nicht wärmer gemacht. Für mich haben diese unangenehmen Situationen wenigstens das eine Gute, Schweigen und c Selbstbeherrschung zu lernen, was auch wohl sehr nöthig war! Eine andere Gelegenheit, diese schöne Tugend zu üben, gab die Resignation auf die reizende Wohnung, in die ich mich mit mehr Mißmuth, als recht ist, habe finden müssen. Indeß gebot es allein schon die Rücksicht auf Deine Gesundheit, welche mir das Quartier von Anfang an bedenklich machte. Gestern ist denn auch die Stube über mir bereits vermiethet worden! Leider!!

‒ Nun nochmals innigsten Dank, liebster Schatz, für alle Liebe und für alle reizende Geschenke, besonders für das Notizbuch und das wohlthuend wärmende Halstuch!

Es küßt und herzt Dich in Gedanken Dein auch im 28sten Jahr Dir gleich liebe und treue Erni.d ||

Zum 16.2.1862.

Vom Felbabaam nimm i’

A paar Katzerle dazua,

Bideut’ daß auf Ostern

I’s heurathe’ thua!

Ein Gedanke, der diesem Busche’-Vers’l sehr ähnlich ist, wird wohl uns Beide heute in gleicher Weise bewegen, mein liebster bester Schatz! Sicher ist dies ja das letzte mal, wo ich den 16ten Februar allein feiern muß, ohne Dich, mein liebstes, bestes auf der Welt! Wie schwer uns Beiden auch heute grade die Trennung werden mag, so überwiegt doch gewiß auch bei Dir ganz der glückselige Hoffnungs-Gedanke der glücklichen Vereinigung, welche ja fürs Erste die Erfüllung aller unserer anderen Wünsche in sich schließt. So selig, so wonnig ist dieser Gedanke, daß ich heut’ Alles Andere darüber vergesse und nur an den Wonnetag denke, wo ich Dich für immer und ewig ganz Mein liebes, süßes Frauchen nennen darf! ||

Mit welcher Spannung ich den Ereignissen der nächsten 6 Wochen entgegensehe, kann ich Dir gar nicht sagen! Manche Tage lebe ich wie im Fieber, in einer Aufregung, die selbst Morpheus nicht zu besänftigen vermag; andere Tage bin ich so gedankenlos oder vielmehr geistesabwesend, daß ich von den Neckereien meiner Freunde Viel zu leiden habe! Gut, daß der Rest der Radiolarien, an dem ich jetzt arbeite, nicht allzuviel Aufmerksamkeit und Verstandesthätigkeit erfordert! Sonst möchte es schlimm mit diesem aussehen! Die Ungeduld wächst freilich, je mehr sich der Schluß des Semesters nähert; und doch, ich sollte ihn nicht zu eilig e herbeiwünschen; denn es giebt noch gar viel bis dahin zu thun! Jedenfalls muß ich radiolarienfrei in den Ehestand springen; mit welchem ja ein ganz neues Leben für uns Beide anfängt! Liebchen, wie hold, wie unvergleichlich lieb ist der Gedanke, von nun an Alles, Alles, Freud und Leid, mit Dir zu theilen! ||

Um Dir die Trennung am heutigen Tage zu erleichtern, schicke ich Dir ein paar von meinen Lieblings-Liedern, den reizenden Schnadahüpfle von der Alm mit; studire sie ja recht eifrig, um sie im Herbst, wenn Du sie in natura hören wirst, ordentlich verstehen zu können. Ein paar Strophen, die Du Dir besonders einprägen mußt, habe ich Dir noch nebenbei mit abgeschrieben! Zu meinem großen Bedauern hat sich auch mein dienstbarer Geist auf dem blauen Umschlage des Liederbuches verewigt, indem er Dir einen getreuen Abdruck seiner schmierigen Fettfinger mitschickt! Du kannst Dir danach einen Begriff machen von der Reinlichkeit, mit welcher dieser Schmierbesen, Minna geheißen, die Stubenpolizei in meinem Hôtel ausübt! Offenbar fühlte sich der edle Besen von den Bildern und Liedern so angezogen, daß er, ohne erst das abgemischte Öl von den Fingern zu waschen, sich in ihr Studium vertiefte, und so dem blauen Deckel die Schandflecken beibrachte, die ich nicht lebhaft genug bedauern kann! || Jedenfalls siehst Du daraus, liebster Schatz, wie nöthig es ist, daß Du recht, recht bald herkömmst und der traurigen Junggesellen-Wirthschaft ein Ende machst! Wenn du sähest, wie schwer mir täglich das Waschen der Theekanne, das Abwischen der Tische, das Putzen des Trinkglases wird, würdest Du schon aus reinem Mitleid oder vielmehr aus christlich-platonischer Liebe zu diesem unglücklichen Privatdocenten hereilen und ihm als hilfreicher Engel diese kleinen weiblichen Beschäftigungen abnehmen! Vielleicht zieht Dich auch sonst noch Etwas her! Wenigstens glaube ich, daß es Dir doch nicht so ganz schlimm bei mir gefallen würde! Freilich halten die Leute mich für ein ganz unmenschliches Wesen und selbst meine Freunde behaupten manchmal, ich müßte „menschlicher“ werden!

„A’ frischa Bu’ bin i’, bein Leute’ veracht’t, Und jetzt bin i’s scho’ g’wöhnt, daß’s ma’ gar Nix mehr macht!“

Aber ein Mensch versteht mich doch; Und das ist mein lieber lieber einziger Schatz, meine herzige beste Änni, die in wenigen Wochen ihrem 28jährigen Erni ganz und gar angehören wird; in dieser süßen Hoffnung, die dies mal gewiß nicht zu Schanden wird, laß Dich herzen und küssen von Deinem lieben treuen Erni, hoffentlich bald Dein Mann und Professor!

a korr. aus: erzähligen; b gestr.: freilich; eingef.: indessen; c gestr. H; d weiter am Rand v. S. 6: Es küßt und…und treue Erni.; e gestr.: ,

Brief Metadaten

ID
38402
Gattung
Brief ohne Umschlag
Entstehungsort
Entstehungsland aktuell
Deutschland
Entstehungsland zeitgenössisch
Großherzogtum Sachsen-Weimar-Eisenach
Datierung
17.02.1862
Sprache
Deutsch
Umfang Seiten
10
Umfang Blätter
6
Format
13,7 x 21,9 cm
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
A 38402
Zitiervorlage
Haeckel, Ernst an Sethe, Anna; Jena; 17.02.1862; https://haeckel-briefwechsel-projekt.uni-jena.de/de/document/b_38402