Ernst Haeckel an Anna Sethe, [Eisenach], 20. Juni 1860

Annathal. 20/6 1860.

Sei mir gegrüßt, Du heilige Stätte,

Die einer Anna Namen trägt,

Und einst mit wunderbarer Sehnsucht

Des Knaben Seele tief bewegt.

Nach manchem Jahre langer Trennung

Grüß’ ich Dich heut zum zweiten Mal,

Und so wie damals, prangst Du heute,

Du wunderbares Felsenthal!

Wie damals, strahlt im Jugendglanze

Der Blätter freudges Hoffnungsgrün

Wie damals, duften Deine Matten,

Auf denen würzge Blumen blühn.

Die Felsen treten eng zusammen

Zum Tempel, heimlich und versteckt,

Daß hochgewölbtes Steingeklüfte

Der Moose sammtner Teppich deckt.

Und oben breite Buchenzweige

Beschatten, wie ein Dach, die Schlucht,

In die verstohlen durch die Blätter

Der Pfad das Licht der Sonne sucht

Geheimniß kündend rauscht die Quelle

Die über blanke Kiesel hüpft,

Und eh’ das Auge sichs versehen,

Tief in der Erde Schooß entschlüpft. ||

Nur noch das Ohr erkennt das Leben,

Das unterirdisch hier sich regt,

Und das mit leisem, schwankem Leben

Des Bodens Decke leicht bewegt.

Wie wunderbar ergreift die Seele

Die mächtige Naturgewalt

Mit ihrer Farben lichtem Schimmer,

Dem Zauber ihrer Gottgestalt.

Hier möchte endlich Ruhe finden

Das ungestüm erregte Herz,

Versenkend sich in heimlich’ Leben,

Vergessend allen Sehnsuchtsschmerz.

Aufgebend alles eitle Streben

Entsagend allem Ruhmesschein

Möcht’ es in abgeschiedner Stille

Hier glücklich und zufrieden sein.

Doch ganz vergebens würd’ ich suchen

In Dir allein mir dies Geschick!

Dein Name sagt mir ja beständig,

Was mir noch fehlt zu meinem Glück:

Das deutsche Mädchen, süß und sinnig,

Das mich durch seinen Kuß entzückt

Und das durch Liebe, wahr und innig,

Durch reine Treue mich beglückt;

Der gute Engel, der so lieblich

Mich führt des Schönen wahren Weg,

Und der mir reich bestreut mit Blumen

Den dornenvollen Lebenssteg. ||

O möchte bald der Tag erscheinen,

Wo Du mich sähst, mit ihr vereint,

Wie anders wird Dein Glanz dann strahlen,

Der heute halb verhüllt erscheint!

Wie anders wird die Quelle rauschen,

Wie anders wehe der Blüthenduft,

Zum Himmel wird mir dann die Erde,

Zum Paradies die dunkle Kluft.

Dann erst kannst Du mich ganz entzücken,

Du wildes, schönes Annathal!

Dann hab’ gefunden ich fürs Leben

In Anna mir mein Ideal!

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Innigsten Gruß und Kuß, mein süßes, einziges Mädchen, aus dem lieben Eisenach, wo ich so eben, von einer reizenden Excursion ins Annathal zurückgekehrt, beim stillen Licht im einsamen Stübchen sitze und Dich aus der weiten Ferne mit der ganzen Kraft meines in Liebe ganz aufgehenden Gemüthes Dich herbeisehne. Ach, bester Schatz, hätt ich Dich heut nur ¼ Stündchen hier haben können, wie hätte ich Dich herzen und küssen wollen! Kaum ist mir je mein herziges Thüringen so reizend vorgekommen, und wie tief es mich bewegt hata, siehst Du aus den vorstehenden Zeilen, die freilich nur ein schwacher Ausdruck meiner starken Gefühle sind, der Annagedanken, die mich so ganz anfüllen, daß ich darüber Alles, Alles Andere vergesse. ||

Nach sehr glücklich beendigtem Turnfest fuhr ich heut (20.6). Mittwoch früh von Coburg, nach herzlichem Abschied von den lieben Forkels, fort, auf der Werrabahn im Geleite der jubelnden Turner, nach Eisenach zurück. Hier um 1 Uhr angekommen, stieg ich sogleich auf die Wartburg, die mir in ihrer neuen Restauration (sehr geschmackvoll ausgeschmückt) noch viel besser gefallen hat, als beim erstenmal, wo ich sie (etwa im Jahr 1845) mit Lodevyk Mulder zusammen als schutterfüllte Ruine sah. Viele Zimmer sind mit reizenden Freskogemälden von M. Schwindt (aus der Geschichte der Thüringer Fürsten) geschmückt; auch die crenellirten Mauern und die Zinnen der Thürme machen sich sehr stattlich. Von der Wartburg, wo bald eine lustige Schaar rückreisender Turner versammelt war, stieg ich allein (zum Theil in tüchtigem Regen) durch den herrlichsten Laubwald in das schöne wilde Annathal hinab, das mit seinem wunderbaren Felsenbau, dem unterirdischen Gebirgsbach und den reizenden Moosen und Blüthen, mich in eine wahren Taumel von Entzücken versetzte, so daß ich in Ermangelung zweier süßen rothen Lippen die reizenden Moose an den triefenden Felswänden und den in den Stein gehauenen colossalen Buchstaben A tüchtig abküßte.

Daß der Name derb unvergleichlichen, so heimlichen und kühlen Felsenkluft, mir das Alles doppelt reizendc erscheinen ließ, kannst Du denken! Ja, nur so ein herrliches Stückchen Natur darf meinen liebsten Namen tragen! Die Annafelsen habens gehört, wie ich Dich liebe süße Maid gerufen und herbeigelockt; aber nur ihr kaltes Echo rief mir theilnahmlos ihren Namen zurück und keine Anna erschien, ich mochte noch so viel ausgucken; hinter keinem Busch trat sie hervor und ich mußte einsam und sehnsüchtig allein meinen Liebesgedanken nachhängen.

a irrtüml.: hast; b korr aus: des; c eingef.: reizend

Brief Metadaten

ID
38305
Gattung
Brief ohne Umschlag
Entstehungsort
Annathal
Datierung
20.06.1860
Umfang Seiten
4
Umfang Blätter
2
Format
13,8 x 22,0 cm
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 38305
Zitiervorlage
Haeckel, Ernst an Sethe, Anna; Annathal; 20.06.1860; https://haeckel-briefwechsel-projekt.uni-jena.de/de/document/b_38305