Haeckel, Ernst

Ernst Haeckel an Anna Sethe, Paris, 10. April 1860

Paris 10.4.60.

Hab tausend Dank, Du liebster, bester Herzensschatz für die beiden herzigen, lieben Briefe, durch die Du mich hier erfreut hast. Den ersten erhielt ich Samstag früh, als ich, am Morgen nach meiner Ankunft, zu Herrn Roques ging, und den letzten Brief an Dich bereits abgeschickt hatte. Hoffentlich hast Du ihn noch richtig zum Osterfest erhalten und so als Festfreude wenigstens die Gewißheit gehabt, Deinen Erni Dir nun schon ein paar 100 Meilen näher und auf dem Festland geborgen zu wissen. Ich hatte die Absicht gehabt Dir gleich von Marseille aus zu schreiben; allein als ich es den Abend versuchte, war ich so todtmüde, daß ich schon bei den ersten Zeilen einnickte. Übrigens wäre der Brief dadurch höchstens 12 Stunden früher zu Dir gekommen. Deinen 2ten Brief erhielt ich gestern Abend und er hat mich nicht weniger als der erste aufs innigste erfreut durch den lauten Wiederhall meiner eignen Gefühle und Gedanken, in denen wir beide jetzt wohl jede Stunde und Minute uns begegnen. Ist doch auch mein ganzes geistiges Leben und Streben jetzt nur ein einziger Gedanke, der durch das einzige glückselige Wörtchen „Wiedersehen!!“ ausgedrückt wird. Wie kann ich Dir nur die Intensität und Wärme dieser Gefühlswonne ausdrücken, meine süße, herzige, innige Änni, die für mich in dieser Vorstellung liegt, eine Wonne, wie ich noch keine in meinem Leben gekannt habe und die alles, alles andre Interesse absorbirt. Ich hatte immer gedacht in Messina, daß der Jubel der Wiedersehenshoffnung nicht mehr wachsen könne, so sehr hatte ich ihn schon das ganze lange Trennungsjahr mit immer wachsender Steigung gehegt – und nun die glückselige Stunde a wirklich naht, wird er doch auch immer größer und größer; schon ist Alles in ihm aufgegangen und doch reißt er mich jede Minute immer mehr und mehr fort, so daß ich schon gar nicht mehr Herr meiner Gedanken bin und schon jetzt nur Dir einzig und allein angehöre. || Oft möchte ich ordentlich böse über mich werden und mich recht ausschelten, daß ich über das unbändige wogende Herz gar keine Gewalt mehr habe und seinen stürmischen Schlag nicht besser im Gleichgewicht erhalten kann. Dann gewinnt aber doch immer der beglückende Gedanke die Oberhand: „Wie glücklich kannst Du Dich preisen, daß es so ist und daß Dein Herz diese überwallende Freude sich mit Recht erlauben kann!“ Ach, Schatzchen, so ganz rein und ungetheilt, wahr und aufrichtig, von ganzem Herzen und von ganzer Seele, haben sich gewiß, selten 2 glücklich Liebende geliebt – und besonders jetzt, wo ich ein gut Stück Weltleben und Menschentreiben mehr kennen gelernt, wo ich die Erfahrung genommen habe, wie äußerst selten leider! ein so reinesb glückliches Liebesverhältniß wie das unsere existirt – besonders jetzt gebe ich mich dem Gedanken an unser unaussprechliches und unübertreffliches Glück nur gar zu gern ganz hin und schwelge in dem seligen Bewußtsein eines Besitzes, wie die Erde keinen zweiten weiter für den glücklichen birgt. Wie anders grüßt ich Dich auch in dieser Beziehung jetzt wieder, mein süßester, bester Schatz! Was mir früher dunkle Besorgniß von einer ungewiß drohenden Zukunft war, ist mir jetzt süßeste Gewißheit der allerfrohesten Hoffnung geworden. Ich weiß, daß ich an Dir allein die sicherste Bürgschaft für die allerglücklichste Zukunft habe, mag auch alles Andere fehlschlagen, mögen meine früheren Reisehoffnungen unerfüllt bleiben, meine sonstigen Naturforscherträume in Schaum zerfließen – Deine liebe, gute, herrliche Seele allein ist mir mehr, als das Alles, als Alles, was die Welt mir sonst geben kann, Du mein einziger, liebster Schatz. ||

Am Ostersonntag Morgen machte ich einen Spaziergang am linken Seineufer hinauf, nachdem ich in den Bains Racine die letzten Spuren italienischen Reiseschmutzes abgewaschen hatte. Dann besah ich die Kirche Notre Dame, die mir nicht besonders gefallen hat. Den ganzen übrigen Tag verbrachte ich in Gesellschaft des Dr. Kuehne, Prof. Czermak und seines Bruders, der hier als Genremaler ansässig ist und guten Ruf hat. Er erzählte viel von seinen Reisen in Dalmatien. Beide Brüder Czermak sind, obwohl Slawen, doch sehr nette und angenehme Leute, der Prof. auch ein recht tüchtiger Naturforscher, der jetzt hier Versuche mit einem von ihm erfundenen Kehlkopfspiegel anstellt. Den ganzen Nachmittag fuhren wir in den Champs Elysees und den Bois de Boulogne spazieren, dem Thiergarten oder Prater der Pariser, wo grade heute der bunte Glanz ihres öffentlichen Lebens in seiner ganzen Glorie zu beobachten war. Abends waren wir in einem der kleinen Boulevardstheater „des Variétés“, wo „les amours de Cléopatre“ gegeben wurde, ein Stück Pariser Sittengeschichte, vor dem bei uns sich die Haare sträuben würden, während der Pariser solche Sachen ganz in der Ordnung findet. Ich lernte also an diesem Tag ein recht characteristisches Stück echten Pariser Lebens kennen. Bis 2 Uhr spazirten wir noch auf den Boulevards wo das laute bewegte Treiben der bunten Menge immer gleich lebendig blieb. Gestern, Montag (9.4.), am 2ten Osterfeiertag, verbrachte ich den ganzen Vormittag auf dem „Père Lachaise“, dem größten Kirchhof von Paris, der eine ganz außerordentliche Menge merkwürdiger, schöner Gräber der berühmtesten Männer in sich faßt. Den Nachmittag spazirte ich die Boulevards hinunter in die Champs elysées, besuchte auch die Kirche S. Madeleine, die von außen einem prächtigen antiken Tempel gleicht und besah mir die herrliche Place de la concorde, die mit ihren Springbrunnen, Obelisken, umgebenden tempelartigen Gebäuden etc ganz einen römischen Character trägt, wie ich dann überhaupt vielfach an Rom erinnert worden bin. ||

Heute, Dienstag, habe ich c mit dem Studium der Kunstschätze begonnen und zwar gleich mit dem größten, dem Louvre, welches hinsichtlich der Reichhaltigkeit und Mannichfaltigkeit der darin vereinigten Sammlungen unseren neuen Museen am nächsten steht. Im untern Theil (parterre) sind die alt-assyrischen Kunstsachen ausgestellt, die erst in neuester Zeit bei Palmyra, Ninive u. Babylon ausgegraben worden sind, ganz kolossale Reliefbilder. Am meisten erfreuten mich, wie immer, die antiken Sculpturen. Die Anzahl derselben ist zwar nicht besonders groß, aber es sind ganz herrliche Statuen ersten Ranges darunter, vor allen die als die schönste gepriesene Venus von Melos, ferner die Diana von Versailles (eine prächtige hohe, leicht geschürzte Gestalt, mit den Hirschkuh daneben), der Borghesische Fechter, die Pallas von Velletri u. a. Auch viele gute Nachbildungen von unseren Lieblingen, von dem reizenden verschleierten Mädchen, dem lycischen Apollo, dem Apollo Sauroktonos etc. Im Oberen Stock ist die colossale Gemäldesammlung so ausgedehnt, daß ich mir heute nur einen allgemeinen Überblick gewinnen konnte. Die hier reich vertretenen Bilder der italienischen Schule, besonders viele Tizian, Leonardo und Rafaelstück I Ranges versetzten mich lebhaft, nicht weniger als die Statuen, an die Kunstgenüsse in Rom und Florenz, die nun schon über 1 Jahr hinter mir liegen.

An Rom werde ich überhaupt hier oft erinnert, da Paris in sehr vielen Beziehungen Parallelen mit jener antiken Weltstadt bietet, wie verschieden sie auch der moderne Character stempeln mag. Der erste Eindruck, den ich in den ersten Tagen meines Hierseins erhalten habe, war doch sehr großartig und wird mir namentlich Berlin jetzt nur wie eine kleine Provincialstadt vorkommen.

Das relative Größenverhältniß beider Städte geben recht gut die Boulevarts an, welche den Berliner Linden entsprechen, aber 6 -7 mal so lang und ungleich prächtiger und belebter sind. || Wie sehr mich aber auch die colossalen Größenverhältnisse der Seinestadt, der Glanz und Luxus, die Üppigkeit und Pracht ihres Weltlebens erstaunt haben, ja, je mehr diese Pracht meine Erwartungen noch übertroffen hat, um so fremder und kälter stehe ich ihr gegenüber und habe immer nur den einen Gedanken: Gott sei Dank, daß Du hier nicht dein Leben zuzubringen brauchst! Ich bin dieses großartigen Treibens müde und sehne mich von Herzen nach der stillen, klaren, reinen Quelle meines Glücks, die mir in der nordischen Heimath fließt. Könnte ich meine künftigen Tage mit meinem Schatz in Jena oder sonst einer kleinen Universität, nahe einer einfachen und lieblichen Waldgebirgsnatur, zubringen, so will ich gern auf Paris mit allen seinen Reichthümern für immer verzichten. Was Berlin im Kleinen besitzt, findet man hier alles in großem, z. Th. in colossalem Maaßstabe wieder. Viele Einrichtungen denen ich auf Schritt und Tritt begegne, zaubern mich schon lebhaft nach Berlin hin, und fallen mir jetzt doppelt auf, da ich sie in Italien nun 14 Monat lang nicht gesehen habe. Überhaupt ist mir der Unterschied von Italien und Frankreich so groß erschienen, aber noch größer, als der von Italien und Deutschland, wenigstens was das öffentliche Leben betrifft. Von dem ersten Moment an, wo ich französischen Boden berührte, habe ich in Frankreich in allen öffentlichen Verhältnissen überall nur die strengste, musterhafteste Ordnung gefunden, doppelt frappant, wenn man aus Italien kömmt, wo die priviligirte Unordnung in allen Stücken an der Tagesordnung ist. Ja auch wir Deutsche können uns darin die Franzosen nur zum Muster nehmen. Ebenso ist die überall herrschende Reinlichkeit und Sauberkeit, die Höflichkeit und der Anstand, mit der man jedermann begegnet, nach den ganz entgegengesetzten Erfahrungen in Italien ungemein wohlthuend. Besonders ist das Reisen welches in Italien so sehr durch den unangenehmen Character des Volks, die Liederlichkeit und Unverschämtheit der Beamten, den Mangel aller festen Preise, aller Regel und Ordnung, verleidet wird, hier dadurch sehr erleichtert, ja, ein wahres Vergnügen. Über Nichts habe ich mich hier so gefreut, als die ewigen Zänkereien und Handeleien los zu sein, die in Italien jeden Augenblick unvermeidlich sind. ||

Nicht weniger als die Menschen, hat auch die Natur von Frankreich einen ganz den von Italien entgegensetzten Eindruck mir gemacht. Freilich war der italienischen Himmel, das tiefe Meeresblau, der bunte zauberhafte Farbenglanz, der mich an der calabrischen Küste jeden Tag mit neuer Bewunderung erfüllte, als ich in Marseille erst wieder Mitteleuropas Festland betreten hatte, wie mit einem Schlage verschwunden. Zufälligerweise war auch in den ersten Tagen der ganze Himmel von einer dichten grauen Wolkendecke verschleiert, so daß kein einziges Sonnenstrählchen sich Bahn brechen konnte, und daß da die ganze Landschaft wie grau in grau gemalt erschien, war kein Wunder. Ja, in Marseille war das Auge ordentlich betrübt, nun d dem bunten Reich der glänzenden Farben mit einmal gänzlich entrückt zu sein, und es regte sich noch einmal der Schmerz, von dieser Farbenherrlichkeit des Südens, vielleicht für immer, Abschied genommen zu haben. Aber als ich nun bei der Fahrt im Rhonethal herauf erst wieder unsere alten wohlbekannten nordeuropäischen Bergkuppen, als ich die ersten grünen Wiesen und Saatfelder, als ich, seit mehr als einem Jahre, zum erstenmal in der Rhône wieder einen breiten mächtigen Strom erblickte – und als nun gar am Charfreitrag Morgen der liebe alte lichteblaue Nordhimmel mit sonnenverklärtem mildem Glanze (den er gewiß von den Augen meiner Änni geborgt hatte!) mich freundlich und liebevoll anschaute, als zum erstenmal wieder die Schlagschatten der leichten Federwölkchen über das zarte sammtige Freudiggrün der jungen Saatfelder und der aufgrünenden Wiesen wegeilten, als sich am Hollunderbusch und dem Haselstrauch das zarte junge Grün vorschauen und Schleedorn und Kirschbäume mit dem prächtigsten weißen Blüthenschnee überschüttet sah – und als aus all der jungen erwachenden Frühlingslust die alten wohlbekannten Lieder der Lerchen u. Finken u. Drosseln mich anjubelten, – da war auch aus meinem Herzen der letzte Rest des Kummers, von dem schönen farbenbunten Süden getrennt zu sein, verschwunden und ich mußte laut jauchend mit einstimmen in das Jubellied der Vögel und hatte die ganze liebe Natur umarmen mögen, in dem seligen Bewußtsein jetzt dem heißersehnten Norden auf Dampfesflügeln wieder zu zu eilen. ||

Aber, statt immer nur von dem dummen, einförmigen Herzen zu hören, meine liebste Änni, möchtest Du jetzt gewiß lieber was von Paris wissen! Was soll ich Dir aber schreiben? Wenn ich Dir aufrichtig die Wahrheit sagen soll, kann ich Dir doch immer nur eine einzige Gedankenweise schreiben, die mich mit solcher Ausschließlichkeit beherrscht, daß ein mich den ganzen Tag beobachtener Arzt miche gewiß für halb geisteskrank halten würde. Denn nur bei einer Monomanie kann eigentlich eine so ausschließliche Herrschaft einer Idee über alle anderen vorkommen.

Wie dieser Hauptgedanke aber heißt, weißt Du bereits und kannst auf die 2 Buchstaben A und N die, doppelt wiederholt, ihn zusammen setzen. Anna – tönt es in mir in meinem Stübchen bei Tag und Nacht, Anna – wenn ich in den Straßen von Paris umherwandere, Anna, – wenn ich seine großen Kunstschätze anschaue – kurz Anna und immer wieder Anna, wo ich bin, gehe und stehe. Und aus diesem einzigen kleinen Samenkorn schießt dann jeden Augenblick auf demf Boden der üppigen Phantasie ein prächtiger Lichterbaum zauberhaft auf, dessen hoffnungsgrüne Zweige mit den herrlichsten Blüthen und Früchten des schönsten, reinsten Liebesfrühlings geziert sind. Vergebens sind alle meine Bemühungen, mich in meinen alten Touristeneifer und Reisendenfleiß hineinzuzwängen, mit dem ich sonst die kurz zugemessene Zeit für den umfassenden Genuss der Sehenswürdigkeiten so wohl auszubeuten versteheg. Was ist aber auf alle Pracht und Herrlichkeit der glänzenden Weltstadt gegen das heimliche kleine grüne Stübchen daheim, wo mich mit offenen Armen das liebste, reizendste Wesen, meine süße, kleine Glücksgöttin selbst erwartet! ||

Ach Liebchen, wie soll ich nur meiner wilden unbändigen Phantasie Zaum und Zügel anlegen! Du siehst, ich mag es anfangen, wie ich will, immer und immer wieder komme ich nur auf Dich, auf Dich, – meinen Anfang und Ende, mein Eins und Alles, zurück. Und wie g es mir hier im Briefe geht, so geht es mir auch in Paris selbst. Ich mag anfangen was ich will, ich mag mich in das bunte Volksgedränge der wimmelnden Boulevarts oder in die herrlichen Kunstschätze des Louvre stürzen, ins Theater gehen oder im Bois de Boulogne spaziren, immer und überall nehmen die flüchtigen Gedanken gleich reiß aus und spaziren noch eine hundert Meilen weiter nach Osten, wo sie im öden Sand der Mark einen reizenden kostbaren Edelstein finden, das liebste, herzigste Mädchen der Welt. Gestern z. B. wollte ich eine Wanderung längs der ganzen Boulevards machen, um sie mir recht genau anzusehen – und ehe ich michs versehe, stehe ich schon, statt am Anfangh am Ende; wie ich dahin gekommen, weiß ich noch nicht, denn gesehen hatte ich noch gar nichts von all den Herrlichkeiten, durch die ich mitten durchgewandert war – statt dessen hatten aber die Gedanken den allerschönsten Spaziergang gemacht und waren mit meinen Schatzchen am Arm durch die Linden und den Thiergarten, in Freienwalde und Heringsdorf umhergewandert! Und so geht es mir mit Allem, Allem! „Überall begleitet mich lieblich und mild meiner geliebten zaubrisches Bild!“

Ja wirklich ein Zauber ists, liebstes Herz, der mich ganz und ganz umfängt, und durch den ich nicht eher wieder klar blicken kann, bis mich Deine süßen Lippen geweckt haben. || Wenn es also in den nächsten Tagen mit meinem Heimweh nicht besser wird, so werde ich auch mehr davon erzählen können, was ich in Paris gedacht, als was ich gesehen habe. Und wäre ich nicht immer der eine Gedanke, daß ich diese glückliche Gelegenheit, Paris kennen zu lernen, nutzen muß – und daß ich vielleicht sonst für immer diese Erweiterung meiner Kenntnisse einbüßen muß, – ich käme lieber heute als morgen nach Berlin und eilte auf Windesflüglen dem Ziel meiner heißesten Sehnsucht entgegen. Doch ich will versuchen, mich in diesen 14 Tagen noch ordentlich zusammen zu nehmen und das mir mögliche zu leisten. Scheint doch wieder manches zusammen zu kommen, um diese Zeit besonders angenehm und lehrreich zu machen. Wahrscheinlich werden nämlich in den nächsten Tagen Max Schulze und Koelliker hier eintreffen, welch ersterer die Osterferien zu einer Reise durch Holland und Belgien – Koelliker zu einer Reise nach London, benutzt hat. Dagegen wird Bezold, auf den ich mich schon sehr gefreut hatte, wahrscheinlich nicht kommen, sondern die ganze Ferienzeit auf Schottland verwenden. Da ich nun Max Schultze hier spreche, werde ich vielleicht gar nicht Bonn berühren, sondern lieber die beiden Tage noch für Paris verwenden. Jedenfalls würde ich mich höchstens 1 – 2 Tage dort aufhalten. Doch nun hört von meinem Leben in den letzten Tagen. Der Nachmittag meiner Ankunft i (Charfreitag 6.4.) verging mit Aufsuchen des Dr. Meding und einem vergeblichen Versuch Dr. Kuehne zu treffen, der Abend mit Briefschreiben. Am folgenden Morgen (Samstag 7.4.) gab ich den Brief gleich auf und wanderte in aller Frühe wieder in das Quartier latin hinaus, wo ich denn Dr. Kuehne noch im Bett traf. Er ist der eine Freund von Bezold, den ihr in Berlin und Jena öfter gesehen, ein sehr lustiger und gescheuter junger Physiologe. || Ein glücklicher Zufall wollte, daß grade am selben Tage ein Stübchen neben seinem Zimmer frei wurde, welches ich denn auch gleich für den Preis von 30fr für die 18 – 20 Tage meines Hierseins gemiethet habe. Es ist ein sehr bescheidenes und einfaches, aber reinliches Hôtel garni, heißt Saint Sulpice und liegt in der rue Voltaire No 7, und nahe dem Odeon, also mitten im Quartier latin und ganz nahe bei der Sorbonne, dem College de France, der école de médècine und all den andern naturwissenschaftlichen und medicinischen Sammlungen. Unser Mittagessen nehmen wir dagegen in einem ganz andern Stadttheil ein, in der Rue Mail N. 6, hinter dem Palays royal, wo wir allabendlich um 6 Uhr oder 6 ½ in einer der großartigen Abfütterungsanstalten für Garcons unsern Hunger dürftig stillen.

– Von Kuehne ging ich am Samstag Morgen zum Banquier, Hrn Et. Roques, einem geborenen Frankfurter, wo ich mir meinen Brief und 200fr holte. Dann siedelte ich aus dem Hôtel Violet in mein Stübchen über, wo ich mich ganz wohnlich und nett eingerichtet habe. Den Abend verbrachten wir im Kafe mit 2 deutschen Professoren, einem Mathematiker Prof. Riemann aus Göttingen und einem Physiologen Dr. Czermak aus Pest. Ersterer theilte mir eine Trauernachricht mit, die mich aufs schmerzlichste und tiefste bewegte, obwohl sie mir nicht unerwartet kam, nämlich den Tod meines innigst geliebten Freunds Otto Beckmann, eines der besten, edelsten und ausgezeichnetsten von allen meinen Freunden. Ich hatte schon den Winter hindurch mehrmals Nachricht von seinem höchst leidenden und traurigen Zustande erhalten. Aber trotzdem hat mich der nun wirklich eingetretene Tod doch aufs tiefste betrübt. Freilich war sein ganzer Körper so schwächlich, daß er das schlimme Brustleiden nicht lange mehr ertragen könnte, eine erbärmlich elende Hülle für einen so großen und herrlichen Geist!

a gestr.: s; b Textverlust durch Ausriss, sinngemäß ergänzt; c gestr.: zu; d eingef.: mich; e eingef.: dem; f irrtüml.: verstehen; g gestr.: ge; h korr. aus: Anfangs; i gestr.: verging

 

Briefdaten

Gattung
Verfasser
Empfänger
Datierung
10.04.1860
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 38297
ID
38297