Ernst Haeckel an Anna Sethe, Paris, 6. April 1860

Paris 6.4.60.

Glückauf, Glückauf, mein liebster Herzensschatz! Das wäre also der erste Gruß wieder auf dem europäischen Festlande, den ich Dir so innig und tief empfunden zusende, daß ich meine, Du müßtest es wissen, wie glücklich es mich macht, Dir auf einmal um ein paar hundert Meilen näher gerückt zu sein. Ist das ja doch schon der Anfang von der noch viel größeren, ja unvergleichlich großen und hohen Freude, die uns in nun nur noch 3 oder 3½ Wochen erwartet. Liebchen, ich kann dies nicht sagen, aber Du fühlst es mir gewiß ebenso durch, wie glücklich mich der Gedanke unsres baldigen Wiedersehens macht. Ja, es ist jetzt eigentlich mein einziger Gedanke, besonders seitdem ich [nun] definitiv von dem schönen, glänzenden, farben[reichen] Süden Abschied genommen habe – und als ich heute auf dem Südbahnhof ankam und die Omnibus stehen sah, die die durchgehenden Passagiere auf den Stadtbahnhof nach Bruxelles, Cologne – Berlin! – beförderten, war ich in der That schwankend ob ich nicht doch durchreisen und auf Dampfes Flügeln Dir in die Arme eilen sollte, Dir, meinem süßen, lieblichen Lebensprincip, dem alles Streben und Sinnen, alle Gedanken und Träume zugewandt sind, indem gewiß aller Reisegenuß in der schönen Erinnerung erst recht aufleben, erst recht in Dir seinen klangvollen Wiederhall, seine lebende Farbe, seine plastische Gestalt finden wird, die Du mir alle Vergangenheit, wie alle Gegenwart und Zukunft erst in dem Zauberspiegel der rosigen Liebe zeigen und verherrlichen wirst. ||

Seitdem ich Dir wieder so viel näher bin, mein liebster, bester Herzensschatz, ist mir fast zu Muthe, als wärst Du mir neugeschenkt, und der glückliche Moment das Wiedersehens, der mir in Sicilien so fern und umschleiert vorlag, liegt nun auf einmal so nahe und klar, so wonnig und lebendig vor meinem Blicke, daß ich das ungeduldige Herz kaum mehr bezwingen kann und je eher, je lieber in Deine offenen, warmen Arme fliegen möchte.

Nur der Gedanke, daß ich Paris doch vielleicht nie wieder zu sehen bekäme und daß mich dies dann ewig reuen würde, vermochte mich doch noch, hierzubleiben und nicht dem Durchreise-gelüste nachzugeben. Auch scheint es nach dem kurzen Überblick, den ich heut gewonnen, daß Paris Augen und Gedanken in der, für diese riesige Weltstadt gewiß kurz zugemessenen Zeit von 14 Tagen–3 Wochen, hinreichend genug in Anspruch nehmen wird, damit sie nicht allzuviel nach den Coaksfeuern auf dem a anhaltischen Bahnhof vorauseilen. Denn ginge es so, wie in diesen paar Reisetagen, so würde ich Dir wenig von Paris zu erzählen wissen – der lichte blaue Nordhimmel, den ich heut zum erstemal wieder begrüßte, erschien mir nur wie der Abglanz Deines liebestreuen Augenpaares, und die frische würzige fast alpine Nordostluft, die mich so belebend anwehte, schien mir nur der Hauch Deines lebendigen Odems; Du liebes, süßes Bild, das Du mich in jeder Minute als guter Engel umschwebst und mich glücklich in die heißersehnte Heimath zurückführen wirst! – Doch nun höre von meiner Reise! ||

Meine letzte Woche in Messina, die letzten 8 Tage des März, waren noch recht dazu angethan, mich all das Schöne und Gute, was ich dort den Winter über genossen, noch einmal recht angenehm und warm empfinden zu lassen. Das anhaltende Regen- und Sturmwetter, das die vorhergehenden 14 Tage in beständigem Kampfe des Boreas und Sirocco gewüthet, wich in der letzten Märzwoche einem warmen, wonnigen Frühlingswetter, das mich alle Reize des südlichen Frühlings recht lebendig empfinden ließ, freilich aber noch vielfach die Vorfreude auf den ungleich reizenderen nordischen Frühling erweckte, der mich daheim bei meiner schönsten Blume erwartet. Ein paar dieser köstlichen Tage habe ich dann auch noch recht genußreich benutzt. – Freitag 23.3. machte ich mit dem Botaniker von Messina, Professor Giuseppe Seguenza, einen sehr guten Kerl, voll strebsamen Eifers und voll Hochachtung und Respect vor den deutschen Gelehrten, eine botanische Excursion in die Bocchetta, eine sehr wilde, zerrissene Fiumare, die sich zwischen Fort Gonzaga und Castellaccio in das Gebirge hinaufzieht. Wir fanden eine sehr schöne und seltene, nur bei Messina vorkommende Kaiserkrone, Fritillaria Messanencis – eine hübsche blaue Orchis (longicornis – unserer Morio ähnlich) und ein prächtiges großblumiges blaues Veilchen (Viola gracilis) vor, welch letzterem ich meinem lieben, treuen, blauäugigen Liebchen ein paar Blüthen als letzten Frühlingsgruß von der hesperischen Insel diesem Brief beilege.||

Sonntag 24.3. schwelgte ich den ganzen Tag in italischen Pflanzenschätzen, indem ich Herrn Seguenza von der bei Neapel gesammelten reichen Ausbeute Doubletten mittheilte und dafür von ihm ein sehr schönes und reiches Herbarium der Provinz Messina eintauschte, viele seltene und schöne Sachen.

Sonntag 25.3. hatte die deutsche Coloniee einen Pickenick in Galati, einer 2–3 Stunden entfernten Fiumare im Süden (gegen Taormina hin) veranstaltet. Der Weg dahin wurde zu Esel gemacht, und diese Eselcavalkade, (über 30 Herren und Damen) gehört zu den komischsten Erinnerungen meiner Reise. Ihr dürft dabei nicht an unseren deutschen Esel denken! In den sicilischen Eseln glüht das stolze Feuer des Südens, (vielleicht auch das Bewußtsein ihrer klassischen Ahnen!) und wenn sie einmal in Gang sind, laufen sie so gut ihren Galopp, wie unsere muntersten Pferdchen. Der Anführer des malerischen Zuges war Hr. Kamp auf seinem Musteresel der fast beständig galoppirte; und sobald dieser sich in Galopp gesetzt hatte, fing auch die ganze übrige Bande an, aus Leibeskräften zu galoppiren. DFie ganze Scene und die dazu gehörigen Abenteuer der buntgemischten Gesellschaft waren so hochkomisch, daß wir fast in einem Lachen blieben und oft Mühe hatten, uns in den Sätteln zu erhalten. Auch sonst war die Parthie höchstvergnüglich, von schönsten Wetter begünstigt und daher reich an Naturgenuß. ||

Nachdem wir in Galati angekommen, wurde ein hübscher Spaziergang auf die nahen höheren Berge der Küste gemacht, mit prächtigen Aussichten auf die Meerenge, in der Ferne Stadt und Faro, auf Calabrien, und in die wilde Gebirgsscenerie der nahen Fiumaren am Fuß des Antennamare. Dann wurde um 2½ Uhr das Pickenick und Diner eingenommen, bei welchem jede Familie die andere durch die Güte ihres mitgebrachten Antheils zu überbieten suchte. Besonders mundeten uns die edeln Sicilianer Weine, Siracusen Muscat und Vittoriawein vom Fass, prächtig; und zum Schluß brachte der alte Herr Jaeger, das ehrwürdige Haupt der ganzen Gesellschaft, das Wohl des abreisenden Naturforschers in Champagner aus, worauf dann alle „auf Wiedersehen!“ mit mir herzlich anstießen, Mehrere auch der „kühlen Blonden!“ noch Hrn. Peters Vorgange freundlichst gedachten. Nachmittag verlor sich ein Theil der Gesellschaft auf Einzelspaziergängen. Ich kletterte allein in einer dichtdurchwachsenen engen Felsschlucht herauf, in deren Grunde ein lieblicher Quell herabrieselte. Das Murmeln klang wie ein Gruß aus der fernen Heimath und wiegte mich in so liebliche Träume, daß ich darüber am Rande der Quelle gelagert, einschlief und nicht eher erwachte, bis ich meinen Namen aus der Ferne verschiedentlich laut rufen hörte. Die Sonne war schon im Sinken und als ich wieder unten ankam, fand ich nur noch einige verspätete Nachzügler, mit denen ich mich in vollen Galopp setzten mußte, um die anderen wieder zu erreichen. Doch war mein Thierchen so müde, daß es bald ein Stückchen hinter den andren zurückblieb, was ich um so lieber geschehen ließ, als die Mondsichel gar freundlich aus dem dunkelblauen Äther in die stille Abendlandschaft herabschaute und mir viel Liebes von Daheim erzählte. ||

Montag 26. und Dienstag 27. war ich kreuzlahm von dem ungewohnten mehrstündigen Galoppiren und alle Glieder waren so zerschlagen, daß ich ruhig zu Haus blieb und noch zum letztenmale mich meiner Radiolarienschätze erfreute. Erst Mittwoch 28.3. war ich wieder mobil und benutzte den prächtigen Tag, um dann endlich einmal hinauszugehen und meinen längstgehegten Vorsatz auszuführen, mir ein paar meiner Lieblingsparthien in Aquarell mitzunehmen. Ich wanderte zuerst nach der schönen Eremitage von Trapani, kletterte dann über ein paar steile Gebirgsrücken und durch ein paar sehr wilde Schluchten in die Fiumare St. Michel hinab, in deren Grunde hoch oben eine alte saracenisch normannische Kirche steht, Abbadiazza oder S. Maria della Scala genannt, freilich nur eine Ruine, eben so malerisch schön und eigenthümlich, überall vom dichten Grün umwuchert und durchwebt, dazu bis an die Säulenknäufe herauf mit dem Kiesgeröll des Flußbetts erfüllt, daß die seltsame Scenerie wohl eines Gedichtes werth wäre, in dem man aus dem Loose dieses Gebäudes das der ganzen katholischen Kirche vorhersagen könnte. Die Beleuchtung war an diesem Tage überaus prächtig und spät am Abend zurück kommend genoß ich noch von dem nah der Stadt gelegenen „Kapuzinerberg“ den prächtigen Blick auf Meerenge, Stadt, Hafen und Calabrische Küste.

Donnerstag 29.3. machte ich noch einige microscopische Präparate, sah mir noch einmal als Abschiedsgruß lebende Radiolarien an und packte dann den ganzen Beobachtungsapparat sehr befriedigt zusammen. Auch die Microscope, die nun bald ½ Jahr lang keine Ruhe gehabt hatten, wanderten in ihr Bettchen zurück. ||

Donnerstag 29.3. Nachm. 5 Uhr ging ich mit dem Dr. v. Bartels und den beiden Lueneburger Zoologen zu Sarauws wo zu Ehren meines Abschieds ein sehr glänzendes Diner arangirt war. Auch Peters u. Hr. Klostermann waren dort. Das wird wohl das glänzendste Diner sein, das mir je zu Ehren gegeben wird, so üppig und reich, und dabei so nett und freundlich, daß ich ordentlich beschämt wurde über all diese unverdiente Auszeichnung,. Von edelstem Sicilienwein haben wir nicht weniger als 8 Sorten gekostet und dazu noch Champagner, Château d’Yguem und was weiß ich alles für Herrlichkeiten. Zum Schluß kam eine große Torte auf der ein hoher Aufsatz aus versilberten Thieren und Pflanzen prangte. Dazu brachte Hr. Sarauw mein Wohl in sehr herzlichen Worten aus, wogegen ich nachher die deutsche Colonie in Messina leben ließ. Fast nach bis Mitternacht lieben wir sehr vergnügt beisammen. – Zum selben Tage hatte auch Hr. Giulio Jaeger (der Sohn) mir zu Ehren ein Abschiedsdiner geben wollen, welches nun um einen Tag verschoben wurde und mir am Freitag 30.3. zu Gute kam, wo ich den ganzen Vormittag mit Einpacken verbrachte.

Samstag 31.3. endlich machte ich alle die Abschiedsvisite was bei der großen Anzahl ziemlich den ganzen Tag ausfüllte. Abend war ich zum letzten mal bei Hr. Klostermann. Dann wurden alle dienstbaren Geister abgelohnt, die sich auch in die kümmerlichen Resteb meiner Reise Garderobe brüderlich theilten. Mit Ausnahme des wenig gebrauchten Galla-Anzuges besteht dieselbe wesentlich nur noch aus einem braunen, verschiedentlich hell gestickten Winterrock und aus einer Sommerhose, die bald nach gelb, bald mehr grau, bald mehr grün aussieht, übriges aber durch zahlreiche Flickenreste in Quarrees getheilt ist. Ich bin also bald auf Capri costuem reducirt und werde mich wohl entschließen müssen, mich noch hier in Paris neu zu equipiren. ||

Palmsonntag der 1. April war also ein Tag, an dem ich dem schönen Süden, der mir in diesem verflossenen Jahre so viel Gutes und Schönes gespendet, vielleicht für immer, Lebewohl sagte. Der Vapore, der mich nach Marsiglia bringen sollte, traf glücklicherweise erst um Mittag ein, so daß ich noch Zeit gewann, mir eine Skizze von den mir so lieb gewonnenen calabrischen Bergen mitzunehmen, was ich bisher immer versäumt hatte. Um 2 Uhr schiffte ich mich ein, die beiden Lüneburger (Dr. Keferstein und stud. Ehlers) und Dr. v. Bartels, der treue Stubennachbar, der mich so sorglich den Winter über gepflegt hatte, begleiten mich an Bord. Letztere schenkte mir zum Andenken noch ein sehr hübsches Buch: R. Toepffers Voyages nouvelles en Zig-Zag autor de Mont-Blanc etc. mit zahlreichen netten Illustrationen. Nach dem herzlichsten Abschied, der von Seiten des guten Dr. v. Bartels wirklich rührend war, dampfte ich dann um 5 Uhr Nachmittags aus dem herrlichem glückspendenden Sichelhafen der alten Zancle fort, seltsam bewegt von wiederstreitenden Gefühlen, theils von Bedauern über das Scheiden von all dem Schönen, was mir die gütige Natur hier so reich gewährt hatte, noch viel mehr aber voll Freude über die glückselige Zukunft, der ich entgegen eilte. In Betreff des Schiffes hatte ich ein ganz besonderes Glück in dem der Zufall mir das größte Dampfboot der Messagerie-Gesellschaft sandte, den herrlichen, mächtigen „Euphrat“, welcher so gebaut ist, daß er im Falle des Krieges sogleich in ein Linienschiff II Ranges verwandelt werden kann. Es war dies das erste mal, daß ich mit einem Schraubendampfer fuhr. Doch fand ich die stoßende Bewegung desselben nicht so schlimm als ich immer gehört hatte, woran vielleicht die enorme Größe des Schiffes Schuld war. Um euch davon ein Begriff zu geben, folgende Daten: || Der Schraubendampfer Euphrat hat 1175 Tonns Gehalt, – 83,40 Metres Länge (250''), 11,20 Metres Breite 5,32 vordere 6,08 hintere Höhe über dem Wasserspiegel. Die doppelte Maschine hat 350 Pferdekraft. Der Innenraum kann 1100 Passagiere fassen (bei Truppentransporten noch viel mehr). Die 3 Masten sind verhältnißmäßig nicht sehr hoch, aber um so dicker u stärker. Dagegen sind die Raaen sehr lang und schwer und könnten selbst treffliche kleine Masten abgeben. Die innere Einrichtung ist sehr schön und geräumig und da die Anzahl der Passagiere sehr gering war, konnten wir uns es recht bequem machen. Ich theilte meine Kabine mit einem griechischen Arzt, einem türkischen Kaufmann, einem englischen Touristen. Die erste Nacht verging recht gut. Am Abend fuhren wir bei den Liparischen Inseln durch. Doch gab uns das kleine Stromboli, den wir diesmal zur Rechten ließen, nicht wie bei der Überfahrt von Neapel, das schöne Beispiel des Feuerspeiens. Als ich am Montag (2.4.) Morgen aufwachte, merkte ich schon an den heftigen Schwankungen, daß wir argen Gegenwind haben mußten und als ich auf das Verdeck trat, sah ich rings um nichts als eine weite weiße Schaumfläche, die der heftigste Nordwind in ihrer Tiefe aufwühlte. Zwar prallten die wilden Wogen an dem mächtigen Riesenleibe unserer colossalen einsamen Festung, wie an einem Felsen, machtlos ab; aber doch knarrten beim heftigen Anschlag alle Fugen und die Schwankungen waren so bedeutend, daß ich, nachdem ich einige Stunden meinen Lieblingsplatz vorn am Bugspriet behauptet und mich an dem wilden Schauspiel von Herzen gewidmet hatte, doch etwas schwindlig wurde und mich in meine Coje unten hin legte, wo ich mich dem süßesten Heimkehrtraum überließ. ||

Der Nordsturm wüthete den ganzen Tag mit derselben Gewalt fort und so oft ich aufs Verdeck trat, hatte ich die Genugthung, meinen Wunsch vollständig erfüllt zu sehen. Dies war auch der erste Tag meines Lebens, wo ich den ganzen Tag über, soweit das Auge reichte, gar nichts weiter als Himmel und Wasser sehen konnte. Als ich um Mitternacht wieder auf das Deck kam, hatte sich der Wind schon gelegt und wir hatten nahe zur Linken die zerrissene Felsenküste der Insel Sardinien, über der der Mond in einem trüb röthlichen Schleier unterging. Am Morgen des 3.4. Dienstag früh passirten wir die enge Bonifacius-Straße, die felsenreiche gefährliche Enge, die die beiden großen Inseln Sardinien u. Corsica trennt. Die Küste trat an beiden Seiten sehr malerisch nah an das Schiff, mit wild gerissenen Strandklippen und mehrfach übereinander gethürmten Gebirgsketten, die oberste ganz mit Schnee bedeckt. Die See war an diesem 2 Tag ziemlich ruhig u. der Boreas war wieder durch den Sirocco vertrieben, der frisch in die aufgehißten Segel bließ. Am Morgen des 3ten Tags, Mittwoch 4.4. um 5 Uhr ankerten wir im Hafen von Marseille, nach grade 60stündiger glücklicher Überfahrt. (Bei der vorletzten Überfahrt bei günstigem Wetter hatte der Euphrat nur 50 Stunden gebraucht), den Mittwoch blieb ich in Marseille, um mir diesen größten Handelshafen Frankreichs etwas anzusehen. Donnerstag 5.4. früh 8 Uhr setzte ich auf die Eisenbahn und fuhr in einem Streich bis Paris durch, wo ich heut Mittag 12 Uhr glücklich anlangte. Der erste Theil der Strecke, über Marseille längs der Küste herab bis Arles und dann dem Rhonelauf entgegen, ist noch recht interessant u. bietet viel hübsche charactristische Ansichten. Von der schönen Lage Lyons konnte ich leider nichts genießen, da es schon dunkler Abend war, als wir dort ankamen. Die Gegend, die wir heute bei Tag durchfuhren (von Montereau bis Paris) ist kaum von norddeutscher verschieden. ||

Je mehr ich hier in der ganzen Natur unsere norddeutsche schon wieder finde, um so stärker wächst freilich auch die Sehnsucht, bald Alles wieder zu haben, was mir die ersehnte Heimath Liebes und Herrliches bringt, obenan natürlich ein paar blaue Augen und ein paar süße Lippen, deren herzinniger Genuß mir nun bald Alles Andere in den Hintergrund drängen wird, ein Gedanke der mich so glücklich macht, daß ich ihn gar nicht auszudenken wage und vermag. Liebchen, was werden nur unser Feuer und der Mond sagen, wenn wir sie erst wieder aus dem heimlichen trauten Eckchen in unserem kleinen grünen Paradies glückstrunken anschauen. Mach nur, daß Du das Unwohlsein wieder ganz los bist, daß wir unser überglückliches Maifest ganz ungetrübt feiern können. Ich bin übrigens auch in diesem Punkt wieder ganz sympathisch treu geblieben und habe mir (als Tribut des Klimawechsels) einen so gründlichen Husten und Schnupfen angeschafft, daß ich, wenn das in 20 Tagen nicht besser ist, Dir gar keinen Kuß werde geben dürfen (!), woran Dir freilich wohl ohnehin nicht viel gelegen sein dürfte. ||

Den nächsten Brief adressire nun direct an mich: À Monsieur le Docteur, Ernest Haeckel Hôtel G. Sulpice 7 rue Voltaire. Paris.

Grüße die beiden lieben Alten herzlichst. Ich wollte ihnen noch besonders schreiben und für die Erlaubniß bis Ende des Monats hierzubleiben, danken. Du Strickchen bist aber wieder Schuld daran, daß ich diesmal wieder nicht dazu gekommen bin. Nun, in 20 Tagen werde ich alle Briefschulden mündlich abtragen. Am meisten werde ich da freilich mündlich (!) an das Persönchen abzutragen haben, an die ich doch eigentlich allein immer geschrieben habe!

Wie ist es denn mit Karl? Kann er es nicht so einrichten, daß er Montag 30.4. oder Dienstag 1.5. in Berlin ist? Oder kann er, besser, nicht bis incl. zum 3. (resp. 4.) Mai bleiben? – 20 Tage also noch! Sei still, Du ungeduldiges wildes Doppelherz und lauf nicht vor Freude davon!

Innigsten Gruß und Kuß, liebster Schatz, von Deinem Erni. Schreib recht bald wieder! – ||

Heute war ich nach der Ankunft gleich zu dem Präsidenten der Gesellschaft Deutscher Ärzte hier gegangen, Dr. H. Meding, der mich sehr freundlich aufnahm und über das Nöthigste orientirte. Morgen werde ich hoffentlich bei Roques & Co euren ersten Brief finden. Den folgenden adressirt lieber A. Mr. le Dr. E. H. p. Adr. Mr le docteur Kuehne. Paris. Hôtel S. Sulpice Rue Voltaire No 7.

Das ist ein alter Bekannter aus Berlin. Ich werde wahrscheinlich auch morgen in diese Gegend, in das Quartier latin ziehen. Heute bin ich vorläufig im Hôtel Violet, Faubourg S. Poissonnière abgestiegen.

– Du wünschst zu wissen, lieber Vater, wieviel Geld ich noch brauche? Das läßt sich noch nicht bestimmen, wahrscheinlich aber doch noch 3–400 frcs, d. h. gegen 100 rℓ (inclusive der Rückreise). ||

In Messina von Jaeger habe ich, da mir Allmers den geliehenen Wechsel nachschickte (im Januar) nur noch 40 Piaster im März und 70 Piaster zur Abreise entliehen, zusammen etwa 550 frcs. Dann habe ich in Marseille zur Weiterreise von Hrn. Peyron de Tiedemann noch 200 frcs genommen (1 fr = 8 Sgn). –

Schreibt doch an Karl, ob er seinen nächsten Besuch in Berlin nicht so einrichten kann, daß er in den letzten Apriltagen da ist? Das wär doch sehr nett, wenn ich ihn gleich sähe!

– Ich bin sehr munter und wohl auf hoffe von euch Lieben Allen dasselbe. Die paar Wochen hier werden bei der Masse der Sehenswürdigkeiten gewiß sehr rasch vergehen und meine Sehnsucht und Ungeduld so lange unterdrücken. Euch lieben Allen schönsten Gruß und Dir liebster Schatz einen innigsten Kuß von

Deinem treuen Ernst H.

a gestr.: alt; b eingef.: Reste

Brief Metadaten

ID
38296
Gattung
Brief mit Umschlag
Entstehungsort
Entstehungsland aktuell
Frankreich
Entstehungsland zeitgenössisch
Frankreich
Zielort
Zielland
Deutschland
Datierung
06.04.1860
Sprache
Deutsch
Umfang Seiten
14
Umfang Blätter
7
Format
14,1 x 22,1 cm
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 38296
Zitiervorlage
Haeckel, Ernst an Sethe, Anna; Paris; 06.04.1860; https://haeckel-briefwechsel-projekt.uni-jena.de/de/document/b_38296