Haeckel, Ernst

Ernst Haeckel an Bertha Sethe, Würzburg, 1. Februar 1856

Würzburg 1/2 56.

Meine liebe Tante Bertha!

Wenn ich so lange, lange nicht an Dich geschrieben habe, so bist Du doch gewiß davon überzeugt, daß ich um so mehr im Geiste bei Dir gewesen, und bei allen Freuden und Leiden, die mich in dem verflossenen Jahre, in dem wir von einander entfernt sind, betroffen haben, an Dich gedacht habe.

Bei den köstlichen Genüssen, die mir die herrliche Alpenreise bereitete, auf der ich an Körper und Geist so stark und gesund wurde, habe ich auch Deiner so unendlich oft gedacht und gewünscht, Dir diese edelsten aller Genüsse mittheilen zu können.

Nicht minder standest Du aber auch im Geiste vor mir, stärktest und tröstetest mich mit Deinem gewohnten treuen und freundlichen Zuspruch, als ich hier in Würzburg mich allmählich immer mehr und mehr in Studien und Berufs-Verhältnisse schicken mußte, die mir anfangs so sehr zu wider waren und deren Angewöhnung mir so viele und schwere Überwindung kostete.

Gott sei Dank ist diese Zeit nun vorüber und es ist mir durch die Selbstüberwindung, die ich dabei habe lernen müssen, eine ganz andere und neue, eine wahrere und darum bessere Weltanschauung aufgegangen, als ich vorher besaß. Aber wie es ja mit jedem Fortschritt in unserm menschlichen, irdischen Leben geht. Bei jedem Schritt vorwärts, bei jeder Stufe, die wir || nach vieler Mühe und Anstrengung empor geklommen sind, öffnet uns sich schon wieder ein neuer Kampfplatz und ein neues Ziel winkt in der Ferne, das neuen Kampf und neue Kraftanstrengung fordert. So werde auch ich jetzt mehr und mehr davon überzeugt, daß diese ganze kurze Lebensspanne nur zum beständigen Kampf und Ringen bestimmt ist und daß es vergeblich und Unrecht sein würde, hier nach Frieden und Ruhe zu suchen. Mit jeder gewonnenen Überwindung wird aber der Kampf auch schwerer; denn nur so kann die Kraft gestählt und fortdauernd gemehrt werden. So sehe ich auch jetzt, nachdem ich endlich nach langem, vieljährigem Tappen und Umherirren im Dunkeln zu einer neuen Stufe des Lichts und der Erkenntniß emporgeklommen bin, daß schon wieder eine Menge neuer und vorher ungekannter Irrwege und Verführungen des in die Welt hinaustretenden Jünglings harren und Vorsicht und Überlegung fordern. Insbesondere ist es jetzt ein Punkt, der mir jetzt viel zu schaffen macht und je weiter ich nach Licht und Wahrheit darin suche, mir nur um so dunkler und verwirrender erscheint. Es ist dies das Verhältniß unserer modernen Naturwissenschaft, deren eifrigster Jünger mich zu nennen doch mein größter Stolz ist, zum Christenthum einerseits und zum Materialismus andererseits. Je weiter die Forschung vordringt, je klarer und einfacher sich die allgemeinen Naturgesetze gestalten und immer mehr auf rein mechanische Verhältnisse und endlich zuletzt auf mathematische Formeln || reduciren lassen (was doch als das höchste Ziel auch in den organischen Naturwissenschaften angesehen wird) um so näher liegt der Gedanke, und um so größer wird die Versuchung, auch den letzten Grund aller Dinge in einem solchen mechanischen, blinden, unbewußten, ausnahmslosen Naturgesetz zu suchen und alle die Folgerungen daraus zu ziehen, welche der moderne Materialismus daraus abgeleitet hat.

Der consequente und rationelle, Schritt für Schritt auf mathematisch gesicherter Bahn vorwärts schreitende Naturforscher geräth da in der That zuletzt in eine Enge und Klemme, aus der er, folgt er allein dem Zeugniß der Vernunft und seinen 5 Sinnen, vergeblich nach einem Ausweg sucht und von der der dem Detail und damit auch dem Geist der Naturwissenschaft fremde Laie in der That keine Ahnung hat. Und sehen wir nicht täglich daß die größten Heroen und Koryphäen unserer heutigen Naturwissenschaft in diesem Labyrinth sich verirren, in diesem Kampf unterliegen und schließlich zu dem reinsten, offensten Materialismus als einzigem Rettungsmittel ihre Zuflucht nehmen? Der Vogt-Wagnersche Streit, über den im Laufe von kaum einem Jahre schon fast eine Bibliothek zusammengeschrieben ist, giebt ein redendes Zeugniß davon! Und doch, wie leer, wie oberflächlich, wie nüchtern ist diese auf die Spitze getriebene rationelle Anschauung, und wie unbefriedigt und trostlos läßt er die nach Wahrheit und Klarheit ringende Seele. Die Leute kommen mit allem ihrem Scharfsinn und ihrer Spitzfindigkeit doch immer zuletzt auf einem Punkt an, || auf dem sie vergeblich nach einem Ausweg suchen, und sich gestehen müssen, daß sie mit ihrem beschränkten Menschenverstand da nicht weiter können. Es ist dies der Punkt, wo das Wissen aufhört und wo der Glaube, den sie so gerne ganz läugnen und fortschaffen möchten, anfängt. Und doch ist dieser Glaube, der im Christenthum seinen vollendetsten und wahrsten Ausdruck gefunden hat, der einzige Rettungsanker für die vergebens nach anderm Trost und andrer Befriedigung sich umsehende Seele.

Auch ich kann nur in diesem Christenglauben, der so Vielen und das so bedeutenden, Geistern nur als eine lächerliche Thorheit gilt, a Trost und Frieden finden, indem ich dieses Glaubensleben als eine von dem, auf das Zeugniß unserer 5 Sinne gegründeten, Wissens- und Verstandes-Leben, ganz verschieden aber neben ihm nicht nur mögliche, sondern auch nothwendige Sphäre zulasse, die ebenso berechtigt und noch unendlich wichtiger ist.

Wie freue ich mich, liebe Tante, nun bald diese und manche ähnliche Fragen, die mich jetzt nicht minder beschäftigen, mit Dir besprechen zu können (was schriftlich doch nur so unvollkommen möglich ist) und in Deinem, wie in dem Sinne und Herzen meiner Eltern, einen Anklang und eine Kräftigungb dieser meiner Grundsätze zu finden, die ich hier vergeblich c suche. Die Zeit, wo wir uns wiedersehen, ist ja nun schon so nah! Für die niedlichen Pulswärmer, die Du mir zu Weihnachten schicktest, sage ich Dir meinen herzlichsten Dank. Sie haben mir Abends in meiner kalten Stube schon oft vortreffliche Dienste geleistet.

– Mit größtem Bedauern habe ich gehört, daß es Dir in letzter Zeit wieder nicht mehr so gut ging; nun hoffentlich ist jetzt wieder Besserung eingetreten und bleibt nun immer dauernder und vollständiger, so daß ich Dich zu Ostern recht munter wieder sehe. Das ist der herzliche Wunsch Deines treuen Neffen

Ernst H.

a gestr.: in der; b irrtüml. Pl.: Kräftigungen; c irrtüml.: zu

 

Letter metadata

Verfasser
Empfänger
Datierung
01.02.1856
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
A 38227
ID
38227