Ernst Haeckel an Carl Gottlob Haeckel, Jena, 24. Juni 1862

Jena 24. 6. 62.

Lieber Vater!

Während Regen und Sturm, die nun schon seit 8 Tagen bei 8-10° Kälte Hier ununterbrochen anhalten, draußen um die Wette heulen, und während ich eben wieder, heute am Johannistage, am 24sten Juni! tüchtig habe einheizen lassen, ist es doch inwendig bei mir so lichter, lustiger und sonniger Frühling, als ob draußen das schönste Wetter wäre! Du kannst denken, wie a mein großes Glück, und das Bewußtsein, nun endlich nach so langem Harren am Ziele aller Hoffnungen zu sein, meine ganze Stimmung jetzt beherrschen und mich in ein wahres Traumleben von Wonne und Glückseligkeit versetzen. Summa summarum bin ich doch ein rechter Glückspilz, und wenn auch die Professur wesentlich Folge der Radiolarien, also wesentlich der Lohn eigener That sind, so kann doch der 28jährige Professor von rechtem Glück sagen, daß Alles so gekommen ist und daß sich gerade Hier in Jena, für das ich eine so besondere Vorliebe habe, den ersten festen Standpunkt gewinne, von dem aus ich in einem höchst befriedigenden Wirkungskreise productiv in das Leben eingreifen kann. ||

Meine Collegien in diesem Sommer, über Osteologie und Syndesmologie (Knochen- und Bänder- Lehre des Menschen) befriedigen mich sehr; ich habe 20 sehr aufmerksame Zuhörer und arbeite mich dabei gründlich in die Anatomie hinein, die doch die Basis und der Ausgangspunkt aller wissenschaftlichen Zoologie bleibt. Fast die ganze übrige Zeit, die ich nicht mit Correctur der Radiolarien etc zubringe – täglich also mindestens 4-6 Stunden, widme ich dem Studium der Kantischen Philosophie, die mich im höchsten Grade anzieht und interessirt. Ich habe mich schon so hineingearbeitet, daß mir der weitere Fortschritt gar keine Schwierigkeiten macht, und ich mit wahrem Enthusiasmus diese Goldkörner menschlicher Gedanken in mich aufnehme. Die rein naturwissenschaftliche, inductiv empirische Forschungsmethode, die ein Muster für alle wirklich wissenschaftlichen d.h. kritischen, Untersuchungen ist, entzückt mich, und ich bin schon jetzt ganz davon überzeugt, welchen großen Vortheil für meine ganze Bildung ich von diesem Studium haben werde. Ein ganz besonderes Glück ist es, daß ich grade durch Kuno Fischer in diese tiefsten Probleme des menschlichen Geisteslebens hinein- || geführt werde. Dieser ausgezeichnete Universitäts- Lehrer, die Zierde Jenas, weiß die schwierigsten und tiefsten Fragen mit solcher Klarheit und Durchsichtigkeit zu erläutern, daß ich gar nicht genug mit diesen herrlichen Vorlesungen zufrieden sein kann. Ich höre sein Colleg, in welchem er die ganze Kantische Philosophie in diesem Semester vorträgt, ganz regelmäßig und bin vielleicht von seinen mehr als hundert Zuhörern, der fleißigste Student. Er liest 4 mal wöchentlich von 4-5 Uhr. Was ich im Colleg nicht ganz verstehe, erläutert mir sein ausgezeichnetes Buch über Kant, 2 starke Bände, in denen er die ganzen Lehren Kants aufs trefflichste und verständlichste darstellt. Für den Anfang ist dies Buch jedenfalls dem Studium der Schriften Kants selbst weit vorzuziehen, da es alle Dunkelheiten derselben vermeidet, die schwere Sprache in verständliches Deutsch übersetzt und überhaupt das schwierige Studium so leicht, verständlich und anziehend, als möglich macht. Fürs Erste brauche ich also Kants Schriften selbst gar nicht und werde mich erst später, wenn ich Fischers Übersetzung ganz in mich aufgenommen habe, b an den Urtext selbst machen. Jetzt stehen wir an der Kritik der praktischen Vernunft (der Tugend und Rechts- Lehre) nachdem wir uns bis zu Pfingsten mit dem Leben und Charakter Kants und dann mit der Kritik der reinen Vernunft beschäftigt hatten. Dies Colleg ist der größte Genuß dieses Sommers. ||

Von unserer schönen Natur habe ich diesen Sommer noch wenig genossen, da wir meist sehr schlechtes Wetter haben. Seit 8 Tagen hat es keinen Sonnenblick gegeben, dafür fast ununterbrochen Regen, und eisigen Nordwestwind, so daß das Thermometer beständig zwischen 8 und 12 Grad schwankt und man sich in der schönen Johaniszeit höchst ungemüthlich befindet. Auch der Anfang der Pfingstwoche war schlecht, die 3 letzten Tage dagegen sehr schön, und diese habe ich benutzt, um mit Bezold und einem Berliner Freunde desselben, Dr. Rosenthal, eine höchst gelungene kleine Excursion in den Thüringer Wald zu machen. Wir fuhren Mittwoch (11. Juni) nach Schwarzburg, gingen am Donnerstag das Schwarzathal sehr weit hinauf, über Schwarzburg bis Blumenau und Mellenbach, eine überaus reizende Tour, von da noch Amt Gehren. Von dort Freitagc auf die Schmücke und den Schneekopf, den höchsten Berg des Thüringer Walds mit sehr schöner Aussicht, Samstag (14. Juni) von Oberhof durch den Dietharzer Grund nach Reinhardtsbrunn, und Waltershausen. Von dort mit Eisenbahn nach Apolda und noch am selben Abend zu Fuß nach Jena zurück.

d Herzlichen Gruß an alle Freunde. Schreibe bald wieder, lieber Vater, Deinem glücklichen Ernst. Noch einen besonderen Gruß an Tante Weiss.

e Die Hochzeit denken wir zwischen 15 u. 20, am liebsten 17 oder 18 August zu feiern.a

a gestr.: mich; b gestr.: mich; c korr. aus: Donnerstag; d weiter am Rand v. S. 4; e weiter am Rand v. S. 1.

Brief Metadaten

ID
37768
Gattung
Brief ohne Umschlag
Entstehungsort
Entstehungsland aktuell
Deutschland
Datierung
24.06.1862
Sprache
Deutsch
Umfang Seiten
4
Umfang Blätter
2
Format
14,0 x 22,1 cm
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 37768
Zitiervorlage
Haeckel, Ernst an Haeckel, Carl Gottlob; Haeckel, Charlotte; Jena; 24.06.1862; https://haeckel-briefwechsel-projekt.uni-jena.de/de/document/b_37768